Woher kommt die zunehmende Gewalt gegen Journalisten?

Medien werden im Zuge der George-Floyd-Proteste von allen Seiten attackiert. Hinter den gewalttätigen Übergriffen stehen Bürgerrechtskämpfer, Antifa-Sympathisanten, Rechtsextreme – und die Polizei. Das Phänomen hat aber noch tiefere Ursachen.

Marc Neumann, Washington
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Das gegenseitige Verständnis schwindet: Ein Fotograf wird in Atlanta von der Polizei festgenommen.

Das gegenseitige Verständnis schwindet: Ein Fotograf wird in Atlanta von der Polizei festgenommen.

Dustin Chambers / Reuters

«Are you alright?! Are you OK?! Everything OK?!», fragt der CNN-Moderator Nick Valencia, hastig und immer wieder. Der Grund für Valencias panikartige Reaktion: Demonstranten haben soeben einen Knallkörper durch die zertrümmerte Glastür in eine Lobby des CNN-Hauptquartiers geworfen. Zwei Dutzend Polizisten gehen in Deckung, dann knallt der Vorzünder, es folgt eine laute Explosion; Rauch umnebelt die Szenerie.

All das war live am Fernsehen zu sehen, am Freitag, 29. Mai, um 21 Uhr 26 in Atlanta. Die dank ihrer Medien- und Filmindustrie boomende Hauptstadt des US-Südstaats Georgia wurde zu einem der ersten Brennpunkte ausserhalb von Minneapolis, als die Protestwelle nach dem gewaltsamen Tod von George Floyd in andere Städte der USA schwappte.

Vier Tage nachdem der 46-jährige Afroamerikaner unter dem Knie des mittlerweile wegen Mordes angeklagten Polizisten Derek Chauvin erstickt war, gingen aufgebrachte Menschen auf die Strassen der Geburtsstadt von Martin Luther King junior, in der Afroamerikaner knapp über die Hälfte der gut 500 000 Einwohner stellen.

Von Trumps «Volksfeind» zum Feind der Demonstranten

Dass einige Demonstranten vor laufenden Kameras ausgerechnet das Hauptquartier von CNN attackierten, das CNN-Logo verunstalteten und die Eingangshalle verwüsteten, ist erstaunlich.

Schliesslich ist der Fernsehsender CNN mit seinen regierungskritischen «talking heads» wie Don Lemon, Anderson Cooper oder Chris Cuomo demokratischen Anliegen links der politischen Mitte freundlich gesinnt. Auch der «Black Lives Matter»-Bewegung, die 2012 aus einem Hashtag hervorging und das Ende der Polizeigewalt gegen Opfer wie George Floyd fordert, ist CNN seit Jahren wohlgesinnt.

Umgekehrt ist der Nachrichtensender einer der liebsten Prügelknaben von Präsident Trump, der CNN bekanntlich regelmässig als Verbreiter von «fake news» verunglimpft und als «enemy of the people» (Volksfeind) geisselt. Warum also richten Demonstranten ihre Attacken gegen einen Verbündeten?

Zunächst ist es gut möglich, dass das CNN-Hauptquartier attackiert wurde, weil der Mob zufälligerweise vor dem Gebäude im Olympia-Park mit Polizisten zusammenstiess. Auch war das 20-minütige Scharmützel vergleichsweise harmlos – zumindest wenn man bedenkt, dass in Minneapolis und Los Angeles ganze Häuserreihen brannten, dass es in der Innenstadt Washingtons zu Militäreinsätzen und Tränengasschlachten kam, dass in New Yorks Fifth Avenue ganze Strassenzüge geplündert wurden und insgesamt mindestens sechs Menschen starben.

Bilder der Konfrontation legen indes nahe, dass CNN durchaus gezielt ins Visier der Demonstranten geriet. Wie anderswo bildeten diese eine gemischte Gruppe, in der sich auch junge Weisse als Rädelsführer hervortaten. Möglicherweise waren es linksextreme Antifa-Vertreter oder sogenannte «boogaloo bois» aus dem rechtsextremen Spektrum, die einen gewaltsamen Umsturz ebenfalls befürworten.

Beiden Parteien gilt das Mainstream-Medium CNN als Vertreter des Status quo. Am CNN-Hauptquartier, so schien es, tauchten erstmals politische Extremisten im Verbund mit schwarzen Bürgerrechtsaktivisten auf, um zu randalieren.

Das würde nahelegen, dass der Angriff auf CNN für eine neue Dimension von Feindseligkeit und Gewaltbereitschaft steht, die Medien in den USA immer heftiger entgegenschlägt. Das simplistische Gut/Böse-Schema, nach dem gewisse Medien eine Allianz mit linksliberalen gegen reaktionäre Kräfte eingehen, wäre damit überholt. Reporter müssten dann nicht mehr nur an Trump-Rallys mit Anfeindungen rechnen. Oder mit Briefbomben, wie sie der Eiferer Cesar Sayoc 2018 verschickt hat.

Tatsächlich gab es im unübersichtlichen Getümmel der ausser Kontrolle geratenen Proteste gewalttätige Übergriffe aller Art, darunter auch von militanten Bürgerrechtlern und Antifa-Sympathisanten. Unter den Leidtragenden waren freischaffende Reporter und Fotojournalisten, aber auch Angestellte von bekannten Medienunternehmen auf beiden Seiten des politischen Spektrums wie CNN und Fox News.

Auch Schweizer attackiert

Aber dies ist nur ein Teil des Gesamtbilds: Anders als die Live-Bilder aus dem CNN-Hauptquartier vermuten lassen, kommt der Grossteil der neuen Übergriffe auf die Presse aus den Reihen der Sicherheits- und Ordnungskräfte. Belege dafür gibt es genug. So wurde der dunkelhäutige CNN-Reporter Omar Jimenez in Minneapolis vor laufender Kamera verhaftet, ohne dass es einen Grund dafür gegeben hätte. Die Freelance-Fotografin Linda Tirado hat durch ein Hartschaumgeschoss ihr linkes Auge verloren, ebenso sind mehrere ausländische Journalisten attackiert worden, unter ihnen ein Team des Schweizer Fernsehens, das am letzten Samstag in Minneapolis vor Gummigeschossen fliehen musste, obwohl es den Polizisten Presseausweise entgegengehalten hatte.

Zahlen des «US Press Freedom Tracker» bestätigen den sprunghaften Anstieg von Gewalttaten gegen Vertreter der Medien. Für den Zeitraum vom 26. Mai bis zum 3. Juni weist das Projekt von journalistischen Non-Profit-Organisationen zum Schutz der Pressefreiheit 279 bestätigte Angriffe auf die Pressefreiheit und Medienschaffende aus. Zum Vergleich: In den fünf Monaten vor den George-Floyd-Protesten dokumentierte der Freedom Tracker insgesamt 95 Übergriffe.

Vergangene Woche gab es neben mehr als 40 Sachbeschädigungen gegen Medienorganisationen 180 Übergriffe («assaults») – 149 davon durch die Polizei. Dazu gehören physische Gewalt, gezielte Tränengas- und Pfefferspray-Angriffe sowie der Einsatz von Gummigeschossen oder andere Projektilen. Zudem wurden über 45 vorläufige Verhaftungen vorgenommen. Dies ist umso beunruhigender, als die Presse dank der im Ersten Verfassungszusatz der USA verankerten Pressefreiheit eigentlich höchsten Schutz geniesst.

So gelten beispielsweise Ausgangssperren für akkreditierte Medienschaffende nicht, des Platzes verwiesen oder in Gewahrsam genommen werden dürfen sie nur bei klaren Hinweisen auf Gesetzesbruch. Dass diese Bedingung erfüllt war, bestreiten die meisten Betroffenen vehement.

Auf der Suche nach den Gründen für das feindselige Klima listen Kommentatoren sowohl die zunehmende Aggressivität der militärisch immer stärker hochgerüsteten Polizeieinheiten als auch die Anti-Presse-Rhetorik von Präsident Trump auf, die auch Zivilisten zu Gewalttaten gegen Reporter und Journalisten animiere. Anderen greift dies zu kurz.

In der «Columbia Journalism Review» etwa weist Joel Simon darauf hin, dass Medien durch den stetigen Abbau im Lokaljournalismus den Draht zu wichtigen Partnern verloren haben. Immer weniger Titel können es sich leisten, eigens einen Reporter auf den «police beat» zur Berichterstattung über Verbrechen und (Klein-)Kriminalität abzustellen.

Das hat unschöne Folgen. Zum einen verschwindet damit ein Meilenstein der Berufsausbildung von Journalisten. Ohne «police reporting» gäbe es vermutlich weder Journalistenlegenden wie Seymour Hersh noch eine der besten TV-Krimiserien aller Zeiten, «The Wire» von David Simon. Hersh begann seine Karriere als Polizeireporter in Chicago, Simon arbeitete in dieser Funktion ein Jahr lang bei der «Baltimore Sun».

Auch werden Polizisten für fehlerhafte oder illegale Aktionen immer weniger zur Verantwortung gezogen. Schliesslich wissen Polizisten seit dem Wegfall klassischer Polizei- oder Gerichtsberichterstattung auf lokaler Ebene oder dem Ersatz von festangestellten Reportern durch freie Mitarbeiter oft gar nicht mehr, wer genau ihre Ansprechpartner in der Presse sind.

Gibt es zwischen Polizisten und akkreditierten Reportern, die früher Zugang zu «crime scenes» erhielten, keine Zusammenarbeit mehr, geht das gegenseitige Verständnis, aber auch das Vertrauen zwischen Justizapparat und Presse zunehmend verloren.

Aller Wahrscheinlichkeit nach ist das gegenwärtige Ausmass der Gewalt gegen Medienschaffende ein Phänomen in einer ausserordentlichen Krise. Indessen ist zu befürchten, dass die Übergriffe auf Medienvertreter auch politische Ursachen haben. Es ist darum damit zu rechnen, dass die feindliche Stimmung auch nach Überwindung der jetzigen Krise anhalten wird.

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