antisemitismus.net / klick-nach-rechts.de / nahost-politik.de / zionismus.info

haGalil onLine - http://www.hagalil.com
     

hagalil.com
Search haGalil

Newsletter abonnieren
 
 
 

 


Ludvig Igra:
Die dünne Haut zwischen Fürsorge und Grausamkeit
Iatros Verlag Nierstein 2004
Euro 16,00

Bestellen beim Verlag

Bestellen bei Amazon

 


Ludvig Igra,
geboren in Polen im Jahre 1945. Seine Eltern überlebten den Holocaust in Warschau und emigrierten 1947 mit ihm nach Schweden. Ludvig Igra war bis zu seinem Tod im jahre 2003 ein engagierter Psychoanalytiker, Buchautor und Dozent. Nicht zuletzt durch sein Werk "Die dünne Haut zwischen Fürsorge und Grausamkeit" und sein umfassendes Wissen über Politik, Geschichte, Judentum und Musik wurde er in den skandinavischen Ländern zu einem der gefragtesten Gesprächspartner der Medien.

Ludvig Igra:
Die dünne Haut zwischen Fürsorge und Grausamkeit

Ludvig Igra, Sohn von Holocaust-Überlebenden, geht in diesem Band der Frage nach, warum Menschen einander Gewalt antun. Es sei wichtig, so Igra, "sich wieder den großen Fragen über das Wesen der Liebe und des Hasses zu nähern, wie die Menschen das in allen Zeiten getan haben."

Ludvig Igra tut dies in bemerkenswerter Weise, in dem er Fragen von Geschichte und Gegenwart mit psychoanalytischen Einsichten verknüpft. Moral, Gewissen, Rache und Hass sind nur einige der Begriffe, die in Igras Erklärungsmuster für Grausamkeit und Gewalt Eingang finden.

Ludvig Igras eigene Biografie und seine Sorge um die jüngsten Tendenzen von Antisemitismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit sind auf allen Seiten des Buches wiederzufinden, das so gut leserlich und fesselnd auch, oder besser vor allem auch, für den Laien ein großer Gewinn ist.

Leseprobe:

Töten, um anständig zu werden

Einer der Gründe, dass ich für dieses Buch den Titel "Die dünne Haut" gewählt habe, ist meine Auffassung, dass Fürsorge und Grausamkeit einen gemeinsamen Ursprung in der psychischen Konstitution des Mensche haben. Ich sehe diesen Ursprung als eine dünne Haut, wo sich destruktiv und lebensfördernde Möglichkeiten begegnen und getrennt werden. Ich meine, das Widersprüchliche in der menschlichen Existenz hängt zusammen mit so einer dünnen und verdichteten Haut in der Mitte des Seelenlebens. Wer eine gewisse Zeit als der Verfechter des Guten erscheint, kann sich in einen Handlanger der Destruktivität verwandeln. Es gibt beide Möglichkeiten in ein und derselben Person. Ein extremer Ausdruck für dies Nähe zwischen Leben und Tod findet man bei denen, die unter Kriegsverhältnissen ein erhöhtes Lebensgefühl empfinden, weil sie die Macht bekommen haben, das Leben anderer Menschen auslöschen zu können.

Die nazistische Ideologie ist ein unheimliches Beispiel einer solche Dynamik, mit ihrer Behauptung, eine stabile und wahre Gemeinschaft könne nur entstehen, wenn man diejenigen, die ausgeschlossen wurden, vernichtet. Deshalb muss der Nazismus das Töten idealisieren und es gleichzeitig geheim halten. Allein das Wissen, dass es sich um ein Verbrechen handelt und dass man es trotzdem im Geheimen ausführt, macht dieses Verbrechen zu etwas Erhöhtem und Großartigem.

Der SS-Reichsführer HEINRICH HIMMLER, der für die Vernichtung der Juden verantwortlich war, wusste, dass seine Männer moralische Unterstützung brauchten, um ihr blutiges Handwerk weiter ausüben zu können. Er ermahnte sie, an diesem weltumspannenden Plan teilzunehmen, "für ein menschliches Gehirn kaum zu fassen", um das deutsche Volk und die nordische Rasse zu retten. Zu seinen SS-Generalen sagte HIMMLER in Posen am 4. Oktober 1943: "Ich will hier vor Ihnen in aller Offenheit auch ein gar schweres Kapitel erwähnen. Unter uns soll es einmal ganz offen ausgesprochen sein, und trotzdem werden wir in der Öffentlichkeit nie darüber reden ... Ich meine jetzt die Judenevakuierung, die Ausrottung des jüdischen Volkes... Von euch werden die meisten wissen, was es heißt, wenn 100 Leiche beisammen liegen, wenn 500 daliegen oder wenn 1000 daliegen. Dies durchgehalten zu haben, auch dabei - abgesehen von Ausnahmen menschlicher Schwächen - anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht. Dies ist ein niemals geschriebenes und niemals zu schreibendes Ruhmesblatt unserer Geschichte..." (SHIRER 1989, mein Kursiv)

HIMMLERS Definition einer erstrebenswerten Härte ist es, wehrlose Menschen ermorden zu können und doch anständig zu bleiben. Im obigen Zitat ist die Schande offen zugegeben: das heroische und endlose Morden darf niemals zur allgemeinen Kenntnis gelangen. An HIMMLERS Gedankengängen kann man sehen, wie die dünne Haut zwischen Fürsorge und Grausamkeit aufgehoben wird in einer pervertierten Vorstellung, die Mörder könnten ihre Anständigkeit verstärken, wenn sie hart genug wären, sich von ihrer eigenen Grausamkeit nicht zermürben zu lassen. Für HIMMLER verwandelt sich die ungerührte Grausamkeit zum Zeichen moralischer Überlegenheit - das Kennzeichen der gehärteten Persönlichkeit.

Eine Vision der sauberen Gesellschaft und des hart machenden Weges dahin wird nur durch die Auslöschung des Nicht-Wünschenswerten erreicht. Mit Notwendigkeit muss der Nazismus deshalb in Gewalt münden. Dessen innere Logik - Reinigung durch Auslöschung - fordert das. Wenn die tatsächliche Gewalt ausbleibt, wird die nazistische Organisation bei ihren Anhängern in unheimlicher Weise ihre Legitimität verlieren. Ohne den Einschlag von Gewalt haben sie ja nur neben vielen anderen an einer politischen Tätigkeit teilgenommen. Aktive und bewusste Neonazis weisen natürlich die demokratische Gesellschaft mit ihren bürgerlichen Freiheiten als einem Ausdruck der Schwäche ab. Die demokratischen Rechte, die es ihnen möglich machen, tätig zu sein, werden gleichzeitig Gegenstand ihrer Verachtung. Sie träumen davon, diese - für sie - lebensunfähige Gesellschaft zu zerschlagen und in einem utopisch-mystischen Gewaltsturm zu "reinigen".

Einer der tragenden Gedankengänge dieses Buches ist, dass praktisch jeder unter gewissen gesellschaftlichen Umständen Grausamkeit entwickeln kann. Es erfordert keine gestörte oder verletzte Persönlichkeit, um Grausamkeit zu zeigen. Man muss nicht schon früher irgendwelche besonderen Zeichen von Gewalttendenzen aufgewiesen haben. In Situationen großer Unsicherheit und wenn die politischen Leiter Gewalt sanktionieren, weiß keiner, wer von uns zum Mörder werden könnte.

Das bedeutet nicht, dass "alle" Mörder und Gewalttäter werden können. Viele Menschen werden immer der Versuchung widerstehen, Gewalt und Macht gegenüber anderen Menschen auszuüben. Aber bedeutend mehr als wir glauben wollen werden nachgeben; und da handelt es sich um so viele, dass keiner von uns im Voraus wissen kann, welcher Kategorie er selbst unter solchen Umständen angehören könnte. Der Gruppendruck und die politischen Verhältnisse können primitive Vorstellungen ermuntern, zum Beispiel die Gruppe sei Opfer eines böswilligen Feindes, der unschädlich gemacht werden müsse. Die Erfahrungen aus dem Zweiten Weltkrieg zeigen außerdem, dass diejenigen, die bei dem Ermorden von Juden teilnahmen, nicht einmal Anhänger der antisemitischen Vorstellungswelt zu sein brauchten.

Aber die Gesellschaftsverhältnisse, die Vergeltung und andere Form von Gewalt bei den Mitbürgern stimulieren, können nicht als die Grundursache der Gewalt betrachtet werden. Sie schaffen zwar die Voraussetzungen dafür, aber es bleibt Verantwortung des Einzelnen, der Versuchung zu widerstehen, der primitiven Vorstellungswelt nachzugeben.

Heute ist eine allgemein vorkommende Art der psychischen Gewalt die Drangsalierung von Flüchtlingen durch lange hinausgezogene Prozeduren und unmenschliche Beurteilungen von Seiten der verantwortlichen Berhörden. Welchen Einfluss haben solche staatlich sanktionierten Handlungen auf die Vorstellungen der Bürger von richtig und falsch? Wie beeinflussen sie auf längere Sicht unser nationales Selbstbild? Ich kann mich da von einem Gefühl der Scham nicht freimachen.

Kapitel 2.2, S. 20-22
Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Iatros Verlages

hagalil.com 18-08-04











 

haGalil.com ist kostenlos! Trotzdem: haGalil kostet Geld!

Die bei haGalil onLine und den angeschlossenen Domains veröffentlichten Texte spiegeln Meinungen und Kenntnisstand der jeweiligen Autoren.
Sie geben nicht unbedingt die Meinung der Herausgeber bzw. der Gesamtredaktion wieder.
haGalil onLine

[Impressum]
Kontakt: hagalil@hagalil.com
haGalil - Postfach 900504 - D-81505 München

1995-2014 © haGalil onLine® bzw. den angeg. Rechteinhabern
Munich - Tel Aviv - All Rights Reserved

ehem. IDPS (Israeli Data Presenting Services) Kirjath haJowel, Jerusalem