Alexander Kissler:
'Wo bin ich denn behaust?' Rudolf Borchardt und die Erfindung des Ichs
Wallstein Verlag 2003
Euro 34,00
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Erste umfassende Monographie:
Rudolf Borchardt und die Erfindung des Ichs
Von Thomas Meyer
"Der zweite Vorschlag betrifft die deutsch-jüdische
Symbiose in ihrer Auswirkung auf markante Persönlichkeiten. Diese ist
eines der merkwürdigsten historischen Phänomene. Die innere Problematik
der daran beteiligten Menschen, das Verhältnis zwischen Deutschtum und
Judentum, mit dem diese Menschen nicht zu Rande kamen, sollte Aufgabe
einer Behandlung sein.
Beispiele dieser Problematik sind in einer höchst
bemerkenswerten Weise in der deutschen Literatur zu finden. Es würde
sich nun darum handeln, an einer Reihe von Beispielen verschiedener Art
darzustellen, worum es hier ging. Dies könnte z.B. an Figuren wie Rudolf
Borchardt, Jakob Wassermann, Karl Wolfskehl, Karl Kraus, Friedrich
Gundolf, Peter Altenburg, Samuel Lublinski geschehen." Mit diesen Worten
umriss Martin Buber am 8. April 1959 die künftigen Forschungsaufgaben
des Londoner Leo Baeck Institutes.
Für die meisten der genannten Persönlichkeiten steht nicht
nur die von Buber angeregte Forschungsarbeit noch aus. Hingegen lässt
sich im Falle Rudolf Borchardts in den vergangenen zehn Jahren ein
erhöhtes Interesse an seinem Leben und Werk wahrnehmen. Die Publikation
umfangreicher Briefbände, die Edition des sogenannten
"Anabasis"-Manuskripts und die Fortsetzung der Werkausgabe fanden nicht
nur in den deutschen Feuilletons große Beachtung. Was bisher fehlte war
eine Monographie, die das Wagnis den "ganzen" Borchardt darstellen zu
wollen unternahm. Mit Alexander Kisslers Monographie liegt erstmals ein
umfassender Deutungsversuch vor, der sich auf zahllose labyrinthische
Wegstrecken begeben musste, um Borchardt, sein Werk und seine Zeit in
den Blick zu bekommen.
"Borchardts Werk lässt sich als Abfolge von Kniefällen
lesen." Präziser als in diesem Satz kann man das Schaffen des völlig
zerrissenen, dabei sich dieses Zustandes vollkommen bewussten Dichters
nicht zusammenfassen. Immer wieder aufs Neue versucht Borchardt mit
maskenhaftem Spiel sich zwischen tatsächlichen und imaginierten Fronten
zu positionieren. Nirgends ist er beheimatet, obwohl Borchardt mehr
Umarmungsversuche unterschiedlichster Kreise erlebte durfte als die
meisten anderen Zeitgenossen. Wenn Kissler die zeitgenössischen Versuche
darstellt, Borchardt auf die jüdische Tradition zu verpflichten, dann
bekommt man einen guten Eindruck von dem Problemkreis "secondary
conversion", die Dan Diner für die Analyse so vieler Extrempositionen im
20. Jahrhundert angemahnt hat. Bei Borchardt findet sich nicht nur
Selbsthass, sondern auch eine scharfe, sich und seiner Umwelt gegenüber
ungerechte, Reflexion auf das fatale Nichtentkommen-Können der Herkunft.
Der studierte Altphilologie ist Präzisionsfanatiker, doch
bei weitem nicht alle seine Werke profitieren davon. Oftmals kommen
seine Gedichte in allzu klassischem Gewand daher, so, als könnten sie
den Furor des Autors für den Moment bändigen. Vieles wird dabei zur
Geste. Auch von davon schreibt Kissler, dessen unaufgeregter Stil eine
ebenso eigentümliche wie genaue Distanz zu seinem Gegenstand hält.
Anders als Borchardt, der immer wieder Synthesen schaffen möchte, wo die
Realität längst ihr Veto eingelegt hat, achtet der Interpret sehr genau
auf die Falle der falschen Identifikation.
1877 in eine jüdische, aber konvertierte Familie geboren –
deren Geschichte Borchardt selbst in immer wieder neuen Anläufen
verzeichnen wird, um seiner eigenen Verbindung scheinbar zu entgehen –
und 1945 im italienischen Exil gestorben, ist sein Weg in besonderem
Maße der von Buber genannten "deutsch-jüdischen Symbiose" zugewiesen.
Mit Eifer und Hintersinn versucht er gleichzeitig zu verstehen und das
Verstandene loszuwerden. Der Nationalsozialismus pervertiert für ihn
wesentliche Elemente des eigenen Deutschtums. Nation und Ich müssten
eins werden können. Aber die rassistische Volksgemeinschaft kann nicht
das Ergebnis der Übereinkunft sein. Borchardt ist unzeitgemäß in einer
Weise, die ihm schließlich das Leben kostet. "Das wortreiche Dennoch,
das er allen, auch den eigenen Widerständen entgegenhält, bestärkt die
Diagnose im Zustand fortgesetzter Entfremdung zu leben."
Kisslers Buch betreibt keine Poetik der Verehrung, die in
der jüngsten Borchardt-Renaissance einen teilweise unangenehmen
Beigeschmack angenommen hat. Besonders in den großen Rezensionen der
Briefbände von Gustav Seibt und Martin Walser mischten sich allzu
leichtfertige Verehrungstöne ein. In der nun vorliegenden Interpretation
kommen sich Literaturwissenschaftler und Historiker hingegen deshalb
nicht die Quere, weil bewusst gehalten bleibt wie sehr die Zeitläufte
ein singuläres Leben in extremis geschaffen haben. Auch Borchardt bedarf
der Historisierung, damit Martin Bubers gehaltvolles Forschungsprogramm
eine Chance erhält. Alexander Kissler hat einen ersten wichtigen Beitrag
dazu geleistet.
hagalil.com
28-11-03 |