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Mauricio Rosencof:
Die Briefe, die nicht ankamen.
Aus dem Spanischen von Willi Zurbrüggen.
Edition Köln 2004
Euro 13,90

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Schreiben gegen das Vergessen:
"Die Briefe, die nicht ankamen"

Der neue Roman des uruguayischen Autors Mauricio Rosencof rekonstruiert in fiktiven Briefen die eigene Kindheit und das Schicksal seiner in Polen verschollenen Familienangehörigen, die dem Holocaust zum Opfer fielen

Von Theo Bruns

Nicht zufällig führt die Biografie Mauricio Rosencofs, die im Jahr 2000 in Uruguay erschien und dort zum bestverkauften Sachbuch des Jahres avancierte, im Titel einen Plural: Las vidas de Rosencof. Zu vielfältig ist die Lebensgeschichte dieses Mannes, als dass sie auf einen Begriff gebracht werden könnte.

Als Sohn einer polnisch-jüdischen Einwandererfamilie wird er 1933 in einer Kleinstadt Uruguays geboren. Der Vater Isaak ist Mitglied der Schneidergewerkschaft, nähert sich wie viele unbegüterte Juden der kommunistischen Partei an und ist Abonnent der linken Zeitschrift Unzer Fraint, die in jiddischer Sprache erscheint. Unter seinem politischen Einfluss wird Mauricio Redakteur der kommunistischen Parteizeitschrift El Popular. Parallel schreibt er die ersten Theaterstücke und wird binnen kurzem zu einem der bekanntesten Dramatiker des Landes.

Seine Bekanntschaft mit Raul Sendic und der Bewegung der Zuckerrohrarbeiter bringt ihn in Kontakt mit der MLN-Tupamaros, jener legendären Stadtguerilla, die ein Jahrzehnt lang Ausstrahlung weit über das kleine Land am Rio de la Plata hinaus hatte. Zum politischen Verantwortlichen der Organisation ernannt, beweist er sein Gespür für Öffentlichkeitswirksamkeit, als er bei einem klandestinen Treffen dem Regisseur Constantin Costa-Gavras die Informationen liefert, auf denen das Drehbuch des später weltweit Aufsehen erregenden Films Der unsichtbare Aufstand aufbaut. Im Jahr 1972 wird Rosencof verhaftet, die Tupamaros militärisch zerschlagen; wenig später putschen die Militärs.

Es folgen Jahre barbarischer Haft: Zusammen mit acht weiteren Gefangenen der MLN wird er zur "Geisel des Staates" erklärt und elfeinhalb Jahre in unterirdischen, nur zwei Quadratmeter großen Zellen in Kasernen des Landes buchstäblich lebendig begraben. Nur mit seinem Zellennachbarn, "El Ñato" Fernández Huidobro, heute für die Frente Amplio Senator der Republik, kann er sich über ein Klopfalphabet durch die Mauer verständigen.

Um Zeugnis abzulegen von diesem Reich der Stille und Einsamkeit schreiben sie nach ihrer Haftentlassung 1985 – eine Volksbewegung hatte die Militärs zur Abdankung gezwungen – das Buch Wie Efeu an der Mauer, einen Atem beraubenden Dialog über ihre Kerkerzeit, der einen nachträglichen literarischen und menschlichen Sieg über die Diktatur darstellt und in der Gattung der Zeugnisliteratur einen einzigartigen Rang einnimmt. Aus der literarischen Verarbeitung dieser Erfahrung entsteht später der Roman Der Bataraz, in dem sich Erinnerung, Phantasie und Halluzination zu einem dantesken Universum verdichten.

Im Alter von fast siebzig Jahren wendet sich Rosencof, mittlerweile einer der anerkanntesten Schriftsteller des Landes, nun den Spuren seiner Kindheit und dem Schicksal seiner Verwandten zu, die bis auf eine überlebende Schwester des Vaters Opfer des Holocaust wurden. In miteinander verwobenen Erinnerungssträngen lässt er die Welt seiner Kindheit wieder auferstehen und leiht den in Polen zurückgebliebenen Verwandten in Briefen, die nicht ankamen – so der Titel des neuen Buches – die Stimme. Die Ghettoisierung der jüdischen Einwohner von Belzice, einer Kleinstadt in der Nähe von Lublin, ihr Leid und ihre Deportation in die Vernichtungslager erstehen in beklemmender Weise vor unseren Augen, unterbrochen von Erinnerungssplittern, in denen Mauricio seinem Vater in ebenfalls fiktiven Briefen aus dem Kerker schreibt und nach seiner Familie befragt. Auch in seinem neuen Buch bleibt Rosencof der Devise treu, dass das Vergessen die vergangenen Verbrechen verewigt und nur die Erinnerung den Ermordeten eine Zuflucht bietet.

"Und die Schreie? Heute frage ich mich, wo bleiben die Schreie? Sie können nicht einfach verloren gehen, ... sich in Luft auflösen, sie können nicht einfach im Nichts enden, ... sie sind für etwas geschaffen worden, sie sind für etwas geschrieen worden, Isaak, der Schrei stirbt nicht ... Wir selbst, wir sterben schon, jeden Morgen, bei jedem Appell, mit jedem Transport, der eintrifft. Aber nicht unsere Schreie."

Das Buch ist ein Schreiben gegen das Vergessen, eine bewegende Liebeserklärung Mauricio Rosencofs an seine Eltern und Ausdruck seiner unverbrüchlichen Verbundenheit mit den Verwandten, die ermordet wurden und deren Spuren für immer getilgt werden sollten. Bei seiner ersten Europareise 1964 hat Mauricio Rosencof Auschwitz und das Denkmal des Warschauer Ghettoaufstands besucht. In einem der "Briefe" schreibt er jetzt: "Da habe ich zwei Steine aufgenommen, Vater, zwei Felsbröckchen, und für dich, für mich, für Mama, für alle, Vater, habe ich sie auf einer der Stufen ... niedergelegt und gedacht, jeder Schritt, jeder Stein, jeder Widerstand, Vater, war und ist für immer." Und: "Jeder von uns ist jeder und alle anderen."

hagalil.com 28-10-04











 

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