Nicolas Berg:
Der Holocaust und die westdeutschen Historiker
Wallstein Verlag 2004
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Der
Holocaust und die westdeutschen Historiker
Eine Debatte
Herausgegeben für H-Soz-u-Kult von Astrid M. Eckert und Vera
Ziegeldorf
Historisches Forum, Band 2 - 2004 |
Der Holocaust und die westdeutschen Historiker:
Ein großer Riss, für immer zerrissen
Von Natan Sznaider, Ha'aretz, 29.12.2003
In dem Buch "Der Holocaust und die westdeutschen
Historiker" bringt Nicolas Berg eine Anklage vor. In einem Doppelzug
greift er einerseits die deutschen Historiker an, die sich auf das
Studium des Holocaust spezialisiert haben, und versucht andererseits die
Achtung wieder herzustellen, die die jüdische "Geschichte der
Erinnerung" einst genossen hatte und sie in ihrem entschlossenen Kampf
gegen die Gilde deutscher Historiker zu stärken.
Das Buch beschreibt akribisch, wie sich
deutsche Geschichtsschreibung seit 1945 bewusst geweigert hat, den
Holocaust zu verstehen und systematisch Versuche jüdischer Historiker,
einen wissenschaftlichen Kontext für ihre persönlichen Erfahrungen und
Schrecken beizutragen, zurück gewiesen hat. Wie Berg seinen Lesern
zeigt, erwartete man von H. G. Adler, Hannah Arendt, Raul Hilberg, Leon
Poliakov und Josef Wulf, deutschen Historikern zu beweisen, dass sie
fähig seien, die Vernichtung der Juden während des Holocaust auf
nüchterne, objektive Art zu diskutieren. In Wirklichkeit glaubten
deutsche Historiker, sie seien die einzigen, die fähig seien, an solch
einer Diskussion teilzunehmen. Denn waren nicht sie diejenigen, die
Theorien entwickelten, nach denen niemand Schuld für irgendetwas trug?
So argumentiert z. B. Martin Broszat, der frühere Leiter des Instituts
für zeitgenössische Geschichte in München, in einem Briefwechsel mit dem
Historiker Shaul Friedländer starrköpfig, die deutsche akademische,
theoretische Perspektive träfe ziemlich genau die Kriterien objektiver
Forschung, wohingegen jüdische Akademiker die Zuflucht zu "Erinnerung
und schmerzlichem Verlust" oder –um Broszats Ausdrucksweise zu benutzen-
"die mythischen Erinnerungen der Opfer" suchten.
Die denkbare Spannung zwischen jüdischer "Emotionalität" und deutscher
"Objektivität" liegt im Zentrum von Bergs Auffassung und
Forschungsarbeit. Sein Buch geht über den bloßen Austausch von Briefen
zwischen einem deutschen und einem jüdischen Historiker hinaus. Es
präsentiert eher einen Dialog (der anscheinend nie wirklich
stattgefunden hat) zwischen deutschen und jüdischen Historikern. Wie
Berg zeigt, waren es deutsche Historiker (Friedrich Meinecke, Gerhard
Ritter, Hans Mommsen und viele andere), die abstritten, dass die Juden
fähig seien, den Holocaust wirklich zu verstehen.
Sie behaupteten, sie, die deutschen Historiker, kämen
durch das Durchführen der "Historisierung" der Zeitspanne des Holocaust
ihren professionellen Verpflichtungen als Historiker nach. Tatsächlich
jedoch neigten sie dazu, den Holocaust zu "normalisieren", seine
Dimensionen zu verringern und ihn in eine kurze 12-Jahres-Episode
inmitten einer großartigen deutschen Geschichte, die mehrere
Jahrtausende umfasste, zu verwandeln. Sie hofften, ihre Epoche –nämlich
diejenige der Nachkriegsjahre in Westdeutschland- durch das Überspringen
dieser 12 Jahre auf die Spur der Geschichte zurückbringen zu können. Die
Anwesenheit von jüdischen Historikern, die versuchten, am deutschen
Geschichtsschreibenden Diskurs teilzunehmen und das Objektiv auf diese
historische "Episode" zu richten, sabotierten ihrer Meinung nach nur den
Normalisierungsprozess.
Einer dieser jüdischen Historiker –und Hauptcharakter
des Buches- ist Josef Wulf. Er bezahlte für seine Bemühungen mit seinem
Leben. Wulf, ein Historiker und Holocaust-Überlebender, der ohne fremde
Hilfe ein einzigartiges Dokumentationszentrum aufbaute, beging im Jahr
1974 Selbstmord, nachdem er über Jahre hinweg vergeblich versucht hatte,
die berufliche Anerkennung und die finanzielle Unterstützung des
Instituts für zeitgenössische Geschichte zu erlangen. Es war Wulf, der
gemeinsam mit Poliakov die ersten Bücher über den Holocaust schrieb, die
in Deutschland in den späten 1950er Jahren herausgegeben wurden, so z.
B. "Das Dritte Reich und die Juden: Dokumente und Aufsätze" und "Das
Dritte Reich und seine Denker". In ihren Büchern machten Wulf und
Poliakov aus den Holocaust-Tätern menschliche Wesen: Die Täter wurden
Personen aus Fleisch und Blut und wurden nicht bloß als anonyme
Bürokraten in einer nicht durchschaubaren Organisation dargestellt. Wulf
nannte sie sogar mit Namen. Interessierte Leser, die die detaillierten
Indexe in seinen Büchern durchsehen, werden dort die Crème de la Crème
der neuen westdeutschen Elite finden. Sie waren bis zum Hals in
Naziverbrechen verwickelt gewesen. Doch was wäre der Nutzen einer
solchen Durchsicht, da die Juden sowieso schon immer als Opfer
betrachtet werden, die niemals vergessen, und ihren Schikaneuren niemals
vergeben?
Zielscheibe der Kritik
In diesem Zusammenhang diskutiert Berg auch Deutschlands
Aneignung von Arendt. Vollkommen der ursprünglichen Absicht beraubt
wurde Arendts Buch "Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität
des Bösen" eines der fundamentalsten der funktionalistischen Schule des
Holocaust – ein Gedankenschule, die den Holocaust innerhalb des
Kontextes des Models der "kumulativen Radikalisierung" (Hans Mommsen)
erklärt. Nach diesem Model lagen bürokratische Mechanismen miteinander
im Wettstreit. Gemäß dieser Erklärung wurde die Maschinerie des
Massenmords nicht von der Kraft der Leidenschaften angetrieben. Die
"Banalität des Bösen", der bekannte Begriff, der von Arendt geprägt
wurde, wurde vollkommen aus dem Zusammenhang gerissen und wurde zum
Schlagwort für dieses strukturalistische Konzept, das kürzlich das
Subjekt von Auseinandersetzungen wurde. Mommsen begegnete der Kritik,
die von jüdischen Historikern bezüglich der funktionalistischen
Interpretation des Holocaust geäußert wurde, mit Verachtung und
betrachtete diese Kritik als Ausdruck einer zionistischen Perspektive.
Berg, der sich heute als Zielscheibe der Kritik dieser
Historiker und ihrer Studenten findet, enthüllt diese Strategie als
typisch für eine gewisse Sorte deutscher Historiker, die nicht wollen,
dass jüdische Historiker "ihnen den Holocaust rauben". Auf primitive
Art, begleitet von einem Rollentausch, wurden die früheren Opfer
beschuldigt, objektive historische Forschung und die Darstellung des
Prozesses ihrer Vernichtung zu verhindern. Berg gelingt es auf brillante
Weise, den wahren Charakter des deutschen Geschichtsschreibenden
Diskurses aufzudecken. Dieser Diskurs versucht, sowohl die Motive der
Täter als auch die Identität der Opfer verschwimmen zu lassen, während
zur gleichen Zeit die Unzulänglichkeit der Erinnerung als historisches
Werkzeug kritisiert wird.
Bergs Darstellung ist beeindruckend. Er macht deutlich,
dass in der Moderne der Unterschied zwischen der Erinnerung des Täters
und der des Opfers ein wichtiger und zentraler Aspekt der beidseitigen
Abwesenheit des Verstehens ist. Die Erinnerung an den Holocaust kann
sich entlang nationaler Linien entwickeln, sie kann aber auch auf der
Grundlage der persönlichen Einstellung der Opfer eine Verbindung
eingehen. Mit diesem Thema beschäftigten sich deutsche Historiker jedoch
nicht. In ihren Augen würde der Holocaust immer "die deutsche
Katastrophe" (Meinecke) sein – ein exklusives deutsches Desaster. Für
Juden war das Hauptthema im Studium der jüdischen Tragödie ein anderes:
Als Opfer suchten sie ihr Recht, niemals zu vergessen und niemals zu
vergeben, zu bewahren. Die Opfer, die überlebten, glaubten, es sei ihre
Mission dieses Recht zu bewahren. Dies bedeutet jedoch nicht, dass es
keine Möglichkeit zur Schlichtung gäbe, obwohl man fragen muss, wo die
Grenzen dieser Schlichtung lägen. Der politische Zusammenhang in dieser
Frage ist von zentralem Interesse.
Berg, ein Forscher am Simon-Dubnow-Institut für jüdische
Geschichte und Kultur der Universität Leipzig, wies die Illusion der
möglichen Entstehung einer gemeinsamen deutsch-jüdischen Schilderung des
Holocaust zurück. In seiner atemberaubenden Beschreibung des
Zusammenstoßes deutscher und jüdischer Geschichte, zeigt Berg die
Unmöglichkeit einer Brücke zwischen den beiden Schilderungen auf. Alles
was bleibt, ist die Erinnerung an deine gemeinsame Geschichte, die
weiterhin zerrissen sein wird.
Es ist möglich zu argumentieren, dass Berg der Fähigkeit
der Historiker, über die Bedeutung historischer Ereignisse zu
entscheiden, zu viel Bedeutung beimisst. Hätte er Unterhaltungskultur
studiert, hätte Berg entdeckt, dass sich Filmregisseure wie Steven
Spielberg und Roman Polanski über eine beträchtliche Zeitspanne hinweg
auf die Dialektik zwischen Emotionalität und Objektivität konzentriert
haben – eine Dialektik, die Berg tief greifend behandelt. Es ist
möglich, dass Historiker in ihren Versuchen, die Bedeutung eines
historischen Ereignisses zu bestimmen, dessen eigentliche Bedeutung
verlieren. Die vielen Perspektiven –jüdische, nicht-jüdische, säkulare
und religiöse- wetteifern um den Nutzen der kollektiven Erinnerungen und
unterminieren die Positionen der Experten.
Wenn man das Buch von Nicolas Berg liest, ist es schwer,
diese Tatsache zu bedauern, besonders, wenn die Positionen, die
unterminiert werden, diejenigen deutscher Geschichtsschreibung sind.
Prof. Natan Sznaider lehrt am akademischen College in
Tel Aviv.
hagalil.com
10-10-05 |