Rabbi Teichtal besucht Inhaftierte
in Moabit:
Schiur im Knast
Einen Menschen in Gefangenschaft
zu sehen, hat auch etwas Beschämendes. Daß ein Verbrecher zu einer
Haftstrafe verurteilt wird, ist eine unausweichliche Notwendigkeit, und doch
liegt darin zugleich auch ein Bruch mit der conditio humana. Zur
Menschenwürde gehört einfach die Freiheit, die wir uns gegenseitig
zugestehen.
Unlängst lud mich Chabad-Rabbiner
Yehuda Teichtal ein, mit ihm zusammen jüdische Inhaftierte in der
Justizvollzugsanstalt Moabit zu besuchen. Es war nicht das erste Mal, daß er
das Gefängnis betrat. Durch die Mithilfe einer dortigen Vollzugsbeamtin und
durch Mund-zu-Mund-Propaganda hat sich dort eine Gruppe von etwa zehn
jüdischen Gefangenen zusammengefunden, die nun in unregelmäßigen Abständen
von Teichtal besucht wird. Man sitzt zusammen in einem Gemeinschaftsraum, um
eine kleine Lektion jüdischen Religionsunterrichts zu erhalten.
Im Prinzip gehört es zu den rabbinisch-seelsorgerischen Aufgaben, jüdische
Gefangene in den Berliner Haftanstalten zu besuchen. Von einer Mitarbeiterin
der Sozialabteilung der Gemeinde erfuhr ich jedoch, daß bislang kein
Rabbiner dauerhaft dieser Aufgabe nachgegangen sei. Mancher zeigte anfangs
noch einen gewissen Elan, der aber schnell abebbte. Meist sind es
Sozialarbeiterinnen der Gemeinde, die einen entsprechenden
Berechtigungsschein besitzen und Gefangene besuchen, dies jedoch nur auf
Anfrage, zum Beispiel für eine Beratung. Wie viele jüdische Inhaftierte es
gibt, weiß niemand genau, weil es von den Gefangenen selbst abhängt, ob sie
ihre Inhaftierung der Gemeinde mitteilen.
Die Sozialarbeiterin hatte mir von jüdischen Gefangenen erzählt, die derzeit
wegen Mord, Drogenhandel oder Geldfälscherei im Gefängnis sitzen. Ob es sich
wohl um diese Männer handelt, die hier zusammengekommen sind? Man sieht
ihnen die Straftat nicht an.
Die meisten sind eher jung, fast jugendlich, einige jedoch offenbar
verheiratet. Bis auf die Ausnahme eines Amerikaners sind alle
russischsprachig. Manche können jedoch auch gut Deutsch. Bei mindestens
zweien habe ich sofort die Assoziation, daß sie bestimmt keine großen
Verbrecher seien, sondern eher "arme Schweine", die nach ihrer Einwanderung
aus der ehemaligen Sowjetunion auf die schiefe Bahn geraten sind, irgendeine
"dumme Tat" begangen haben, weil sie auf keinen grünen Zweig gelangten. Aber
wer weiß es? Vielleicht bin ich zu naiv. Die Straftaten der Anwesenden sind
jedenfalls bei unserem Besuch kein Thema. Weder spricht Rabbi Teichtal sie
an, noch will ich sie wissen, noch fordert die muntere Stimmung unter den
Gefangenen zu Gesprächen über die Straftaten auf.
Teichtal, der die Namen aller Anwesenden bereits kennt, entschuldigt sich
dafür, diesmal keine Zigaretten mitgebracht zu haben, dafür verteilt er
koschere Kekse. Während die Gefangenen diese essen und ihre eigenen
mitgebrachten Zigaretten rauchen, redet der Chabad-Rabbiner über die
Bedeutung des Schabbat. Er schreibt das Wort in Hebräisch auf eine Tafel und
ermuntert die Gefangenen, alles aufzuzählen, was ihnen zu Schabbat einfällt:
Kerzenzünden,
Wein, Suppe, gefillte Fisch, Fleisch - egal welches Wort es ist, irgendwie
ergibt es nach Teichtals vorgeführten Berechnungen immer den Wert der
heiligen Zahl sieben.
Ich kann nicht sagen, ob solcher Religionsunterricht etwas ist, worauf die
Gefangenen erpicht sind, aber ich sehe, wie es ihren Seelen gut tut, daß
überhaupt jemand für sie in den Knast gekommen ist, um nach ihnen zu sehen.
Ein Gefangener erzählt mir, daß er zusammen mit einem anderen Gefangenen den
Schabbat hält. Teichtal holt zwei Paar Tefilin hervor. Wer sie umlegen
möchte, kann jetzt von ihm erklärt bekommen, wie es gemacht wird. Ich sehe,
wie sehr den Männern, denen Teichtal den Ärmel hochkrempelt, den Lederriemen
um den Arm legt und dabei die Bracha vorspricht, auch die Berührung gut tut.
Teichtal schließt seinen Schiur mit einem Lied und fordert die etwas
verlegenen Männer auf, einen Kreis zu bilden und mit ihm zu tanzen. Kann es
überhaupt eine ehrliche Kommunikation zwischen einem freien und einem
gefangenen Menschen geben? Als Rabbi Teichtal sagt: "Und eines solltet ihr
wissen", wird es plötzlich ganz still in dem Raum - "Jeder von euch ist
wichtig. Denn jeder von euch ist ein Jude und gehört zum Volk Israel." So
absurd schnell die Zusammenkunft vorbeiging, so elementar empfand ich die
Begegnung mit Menschen hinter Gefängnismauern.
Elisa Klapheck ( Jüdisches Berlin, März 2000)
Elisa Klapheck ist Pressesprecherin der
Jüdischen Gemeinde zu Berlin
und Mitinitiatorin von
Bet Debora Berlin
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06-04-2000 |