Dramatische Reise:
Yuri Slezkine besichtigt das jüdische Zeitalter
Von Natan Sznaider
Der in Berkeley lehrende Historiker Yuri Slezkine
eröffnet seine dramatische Reise in die Geschichte der Juden in Rußland und
der Sowjetunion mit den folgenden Worten: "Das moderne Zeitalter ist das
jüdische Zeitalter, und gerade das 20. Jahrhundert ist das jüdische
Jahrhundert." Schon kann man die Alarmbrücken hochfahren. Die Antisemiten
lachen sich ins Fäustchen: Da sagt ein professioneller Historiker, was sie
schon lange nicht mehr sagen dürfen. Die "Protokolle der Weisen von Zion"
lassen grüßen.
Aber: Slezkine hat ein großartiges und provokatives Buch
geschrieben, das die jüdische Geschichtsschreibung (und nicht nur sie) lange
in Atem halten wird. Gerade für Leser in Deutschland, die jüdische
Geschichte immer noch aus der Perspektive der imaginären deutsch-jüdischen
Symbiose begreifen und nach dem sogenannten Beitrag der Juden zur deutschen
Kultur suchen, wird Slezkines Blick aus dem Osten Europas frappierend neu
sein.
Wir leben in finsteren Zeiten. Sozialwissenschaftler haben
angesichts der neuen Barbarei einen schweren Stand. Unser Handwerkszeug
taugt nicht viel, wenn es darum, geht die heutigen Gefahren zu verstehen. So
drehen wir uns im Kreis, versuchen, die Welt in alten Kategorien zu
verstehen, die wir alle so fleißig gelernt haben. Slezkine versucht, aus
diesem Kreis auszubrechen. Er ist Literaturwissenschaftler, Anthropologe und
Soziologe zugleich. Und in einer atemlosen Analyse, die beweist, daß
historische Bücher spannend wie Kriminalromane sein können, zeigt er, daß
die Tugenden der Moderne - soziale Mobilität, wirtschaftlicher
Einfallsreichtum, intellektuelle Errungenschaften der Globalisierung -
nichts anderes als jüdische Tugenden sind.
Als ob das nicht genug wäre, beschreibt Slezkine die
Gründe für die soziale Verknüpfung der Juden mit der russischen Revolution.
Aber die Revolution verriet die Juden in den dreißiger Jahren, denn auch sie
verstand sich zunehmend als ein ethnisch-russisches Nationalprojekt, das für
Minderheiten keinen Platz mehr hatte.
Slezkine bedient sich Bilder aus der griechischen
Mythologie; er teilt die Welt in Merkurianer - also mobile Händler,
Menschen, die heute im Dienstleistungssektor arbeiten - und Apollonianer -
also Menschen, die auf ihrem Land leben und es bebauen.
Für Slezkine sind die Juden die klassischen Merkurianer;
und das Buch handelt von dem Drama, das sich zwischen diesen beiden Gruppen
abspielte, einem Schauspiel, das die jüdische und allgemeine Geschichte
bestimmt und immer noch bestimmt. Die Zionisten sind für Slezkine
merkurianische Juden, die mit aller Macht versuchen, Apollonianer zu werden.
Bislang existiert nur das zweite Kapitel von Slezkines
Buch auf deutsch, und das ist schade. Es setzt den großen Rahmen; aber dem
Leser wird die Geschichte der Juden und der russischen Revolution
vorenthalten. Immerhin wird hier aber deutlich gemacht, wie man die jüdische
Geschichte mit Kapitalismus, Nationalismus und Liberalismus verknüpfen kann.
Slezkine behauptet, daß die Europäer den Juden nacheiferten: Auch Nichtjuden
wollten modern sein. Es waren moderne und kosmopolitische Juden inmitten von
nichtjüdischen Barbaren, die den Luxus und alles, was das 20. Jahrhundert an
ideellen und materiellen Gütern zu bieten hatte, zu schätzen wußten.
Keineswegs handelte es sich hier um herzlose und geldgierige Juden, wie sie
in der Phantasie der Antisemiten auftauchten; vielmehr waren sie Vertreter
eines konstruktiven Umgangs mit der Macht, deren Ziel die Koexistenz
jenseits religiöser und nationaler Grenzen war.
Anders formuliert: Als Merkurianer sind die Juden die
wahren kosmopolitischen Europäer, und gerade deshalb ziehen sie den Hass der
Barbaren auf sich. Slezkine liest (unter anderen ) Marx, Sombart und Freud
auf neue und erfrischende Weise, um seine Thesen zu erhärten.
Als Gegensatz zum apollonischen Ideal der heimatlichen
Scholle zeichnet Slezkine ein unheroisches Bild: Seine Protagonisten, die
handelnd nach Wohlstand streben, sind nicht Bauern und Heroen, sondern
städtische Bürger, Juden und Frauen, die der destruktiven Kraft der
Apolloianer mit ihrem Vergnügen an materiellen Dingen entgegenzuwirken
versuchen. So entsteht ein stilles und sanftes Heldentum, das in erster
Linie leben und überleben will.
Die Juden stehen in dieser Erzählung für eine
kosmopolitische Moderne, die urban, mobil, gebildet, artikuliert,
intellektuell und flexibel ist. Es geht darum, aus Bauern und Königen
Händler zu machen, ohne daß man dem Verlust des Ursprungssentimental und
romantisch hinterher weint. Es geht darum, ererbte Privilegien in verdiente
Privilegien zu verwandeln. Slezkine beschreibt eine Gesellschaft von
Fremden, die ihre Entfremdung als Chance für Freiheit begreift.
Just das wollten die Barbaren vernichten, und sie streben
immer noch danach. Elitäre Geister distanzieren sich von diesem
modernistischen und merkurianischen Projekt, das in ihren Augen immer noch
etwas Fremdes hat (vielleicht sogar Jüdisches, oder schlimmer noch, etwas
Amerikanisches). Sie denunzieren es als rationalistisch, individualistisch,
säkular, materialistisch, oberflächlich und mechanistisch. Statt dessen
ziehen sie es vor, tiefere, spirituelle, organische Werte zu kultivieren.
Slezkine zeigt, daß wir die Wahl haben, daß es nicht Schicksal ist, welcher
Weg bestritten wird.
Das letzte Kapitel heißt denn auch "Hodls Wahl" und
bedient sich einer Metapher von Schalom Alechems "Tewje der Milchmann".
Dabei geht es um die Entscheidung, vor der seine Töchter standen: Juden
konnten nach Amerika auswandern, sie konnten nach Palästina gehen, oder sie
konnten Revolutionäre in Rußland werden. Hierin bestand Hodls Wahl. Und dies
ist auch ein Hauptanliegen des Buches, in dem es um die Juden und die
Revolution geht. Slezkine zeigt, wie diese Wahl nicht die klügste war - aber
eine Wahl war es eben doch. Slezkine zeichnet mit Hilfe großer Literatur die
paradoxe Moderne von Menschen, die ihrer Herkunft nach Juden waren und zu
jüdischen Nichtjuden werden. Damit bricht das Buch aus dem Ghetto der
jüdischen Geschichtsschreibung aus; es wird zur Universalgeschichte. Sollte
Europa ein Buch über seine neuen Herausforderungen benötigen, Yuri Slezkine
hätte es geschrieben.
Yuri
Slezkine: The Jewish Century.
Princeton University Press 2004
Euro 28,90 EUR,
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Paradoxe Moderne. Jüdische Alternativen zum Fin de Siecle
Vandenhoeck & Ruprecht 2005
Euro 14,90
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Der Artikel erschien zuerst in:
Die Welt v. 29.10.2005 |