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Zeitsysteme

Zeitsysteme sind Konstrukte zur Gliederung von Zeit. Sie dienen der Synchronisation unterschiedlicher Geschehen und beruhen auf den Bewegungen der Erde um die Sonne (Jahr), des Mondes um die Erde (Monat) und der Erde um sich selbst (Tag). Diese natürlichen Rhythmen wurden im Lauf der Geschichte auf unterschiedliche Weise ergänzt und weiter unterteilt. Der Kalender bezeichnet die Einteilung des Jahres (Kirchenjahr, Feiertage), während hier unter Zeitsystemen die Tageseinteilung verstanden wird.

Die Grundlage des mittelalterlichen Zeitsystems bildeten die römischen Temporalstunden, d.h. je zwölf Tages- und Nachtstunden, deren Länge im Lauf des Jahres variierte (horae inaequales). Die Kirche übernahm davon sieben als Gebetszeiten: die sogenannten Horen oder kanonischen Stunden Matutin, Prim, Terz, Sext, Non, Vesper und Komplet. Für Zeitangaben im Alltag waren lediglich jene Zeiten von Belang, die den Lichttag in vier Teile unterteilten, und zwar Prim, Terz, Sext, Non und Vesper. Die 24 gleich langen Stunden eines Tages heissen Äquinoktialstunden (horae aequinoctales) und waren in der Antike nur in der Astronomie gebräuchlich. Erst durch die mechanische Uhr, die aus technischen Gründen die ungleich langen Temporalstunden nicht anzeigen kann, wurden die Äquinoktialstunden vom Spätmittelalter an zum geläufigen Zeitsystem.

Die mechanische Uhr kam am Übergang vom 13. zum 14. Jahrhundert in den norditalienischen Städten auf und verbreitete sich vom letzten Drittel des 14. Jahrhunderts an rasch im Gebiet der heutigen Schweiz. Ab 1366 besass Zürich eine öffentliche mechanische Uhr, um 1370 Basel, ab 1381 Bern, ab 1385 Luzern, ab 1399 Yverdon, ab 1402 Vevey sowie ab 1405 Genf und Lausanne. In der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts lassen sich erste mechanische Uhren auch im ländlichen Raum nachweisen, so im Oberwallis 1462 in Münster und 1471 in Ernen. Die Uhren dienten nicht allein der bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts recht ungenauen Zeitangabe, sondern waren auch Statussymbole. Die Anzeige der 24 gleich langen Stunden eines Tages erfolgte entweder akustisch mit Hilfe von Glocken (in der Regel zweimal ein bis zwölf Schläge) oder optisch auf einem Zifferblatt, wobei bis weit in die frühe Neuzeit die akustische Anzeige dominierte.

Von grundlegender Bedeutung für die Tageseinteilung blieb bis weit ins 19. und regional bis ins 20. Jahrhundert der Wechsel von Tag und Nacht und bei gutem Wetter der Sonnenstand. Letzterer wurde direkt am Himmel, mit Hilfe einer Geländeerhebung oder präziser mittels einer Sonnenuhr abgelesen. Die grosse Zahl von Bergnamen im Alpenraum wie Nünistock, Mittaghorn, Einshorn, Pizzo di Mezzodì oder Dents du Midi verweist noch heute auf die damalige Bedeutung des Sonnenstands für die Tageseinteilung. Bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts richtete man auch die mechanischen Uhren mit Hilfe von Sonnenuhren.

Mit dem Übergang von den kanonischen zu den 24 gleich langen Stunden im Spätmittelalter entstanden neben der Tageseinteilung von zweimal zwölf Stunden – Beginn der Zählung am Mittag bzw. um Mitternacht – zwei weitere regional verbreitete Zeitsysteme. In Basel wurden die Stunden nicht als abgelaufene, sondern als beginnende Stunden gezählt: Beim höchsten Stand der Sonne war es deshalb nicht 12 Uhr, sondern 1 Uhr, d.h. die Uhren in Basel gingen im Vergleich zu jenen in den umliegenden Gebieten um eine Stunde vor. Das als sogenannte Basler Zeit bekannte Zeitsystem schuf der Grosse Rat 1798 ab. Auf der Alpensüdseite teilte man wie in Italien den Tag durchgehend in ein Mal 24 Stunden ein. Die Stundenzählung begann mit dem Sonnenuntergang. In diesem Zeitsystem ging deshalb die Sonne während des ganzen Jahres zur gleichen Uhrzeit unter. Hingegen variierte der Zeitpunkt des Sonnenaufgangs in Abhängigkeit von der Nacht- und Tageslänge. Das als italienische Zeit bezeichnete Zeitsystem war im Tessin bis ins erste Drittel, in ländlichen und peripheren Gegenden bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts in Gebrauch.

Weil die Umlaufbahn der Erde um die Sonne nicht gleichförmig verläuft, zeigen auch nach dem Sonnenstand gerichtete mechanische Uhren die unregelmässige, sogenannte wahre Zeit an. Genau gehende mechanische Uhren dagegen laufen gleichförmig und zeigen die sogenannte mittlere Zeit an. Da die Ganggenauigkeit von mechanischen Uhren ab dem späten 18. Jahrhundert zunahm und diese deshalb regelmässig von der wahren Zeit abwichen, wurden von 1821 an in Genf als erster Schweizer Stadt die öffentlichen Uhren nach der mittleren Zeit gerichtet. Im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts folgte die übrige Schweiz allmählich diesem Beispiel.

Im Lauf des 19. Jahrhunderts erhielt der Faktor Zeit durch Industrialisierung, Urbanisierung sowie Beschleunigung von Verkehr und Kommunikation für weite Kreise der Schweizer Bevölkerung eine neue Bedeutung (Arbeitszeit, Fabrik). Zunehmend verdichtete und interdependente Geschehensabläufe zwangen zu einer genaueren Synchronisation mit Hilfe von Uhren. Hatten tragbare Uhren von ihrer Erfindung im 16. Jahrhundert an als Luxusgegenstände gegolten, wurden Taschenuhren in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts für viele Menschen erschwinglich und für die Alltagsbewältigung notwendig (Uhrenindustrie).

Die Tour de l'Ile in Genf, um 1880. Fotostudio Garcin, Genf (Bibliothèque de Genève).
Die Tour de l'Ile in Genf, um 1880. Fotostudio Garcin, Genf (Bibliothèque de Genève). […]

Die Gründung des Bundesstaats 1848 brachte keine Vereinheitlichung der Zeitsysteme. Weiterhin richtete sich jede Ortschaft nach ihrer jeweiligen Lokalzeit. Die Zeitdifferenz zwischen dem östlichsten Punkt des Landes im Val Müstair und dem westlichsten im Kanton Genf betrug rund 18 Minuten. Mit dem Aufbau eines Telegrafienetzes ab 1852 wurden die unterschiedlichen Lokalzeiten erstmals zum Problem, denn die Beschleunigung der Kommunikation verlangte nach einem einheitlichen Zeitsystem. 1853 verfügte der zuständige Bundesrat für den gesamten Post- und Telegrafieverkehr des Landes die mittlere Lokalzeit von Bern als Einheitszeit. Diese wurde ab 1860 täglich vom Observatorium Neuenburg bestimmt und der Telegrafendirektion in Bern zur Verfügung gestellt. Auch der Betrieb der Eisenbahnen richtete sich nach der mittleren Lokalzeit von Bern, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur faktischen Landeszeit wurde.

Die Beschleunigung und internationale Verflechtung von Verkehr und Kommunikation im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts verlangte nach einer weltweiten Vereinheitlichung bzw. Synchronisation der unterschiedlichen Einheits- oder Landeszeiten. 1884 einigte sich die Konferenz von Washington auf den Meridian von Greenwich (heute Stadtteil von London) als internationalen Nullmeridian und ebnete damit den Weg für die weltweite Einführung der Stundenzonenzeit. In der Schweiz führte der Bundesrat 1894 die Zeit der mitteleuropäischen Zeitzone – die nicht mehr auf einem die Schweiz betreffenden astronomischen Phänomen, sondern auf einer internationalen Übereinkunft basiert – für die unter Bundesaufsicht stehenden Verkehrsbetriebe sowie für den Post- und Telegrafieverkehr ein. Hingegen stand die Festlegung einer für das ganze Land gültigen Zeit nicht in seiner Macht. Viele Kantone machten denn auch 1894 von ihrer Kompetenz Gebrauch und führten die mitteleuropäische Zeit eigenständig nach zum Teil heftigen öffentlichen Debatten in ihrem Hoheitsgebiet ein. Seit 1894 richtet sich die Schweiz nach einem einheitlichen Zeitsystem.

1941 und 1942 führte der Bundesrat per Vollmachtenbeschluss die Sommerzeit ein mit dem Ziel, Energie, vor allem Kohle, einzusparen. Allerdings entsprach das Resultat nicht seinen Erwartungen, weshalb er 1943 wieder auf die Massnahme verzichtete. Von den Nachbarstaaten kannte in den 1970er Jahren nur Italien und ab 1976 Frankreich die Sommerzeit. In einer vor allem von landwirtschaftlichen Kreisen herbeigeführten Referendumsabstimmung wurde 1978 ein Zeitgesetz abgelehnt, das den Bundesrat ermächtigt hätte, diese einzuführen. Als sich 1980 auch die Bundesrepublik Deutschland und Österreich für die Sommerzeit entschieden, verwandelte sich die Schweiz in den Sommermonaten in eine «Zeitinsel», worauf der Bundesrat noch im gleichen Jahr das Zeitgesetz unverändert ein zweites Mal vorlegte. Da niemand ein Referendum ergriff, stellt die Schweiz seit 1981 am letzten Sonntag im März die Uhren um eine Stunde vor und am letzten Sonntag im September (seit 1996 am letzten Sonntag im Oktober) um eine Stunde zurück. Eine zweite Bestimmung des Zeitgesetzes regelt, dass die Zeit der mitteleuropäischen Zeitzone, die seit 1894 durch Gewohnheit zur Landeszeit geworden ist, die für die Schweiz gültige Zeit bezeichnet.

Quellen und Literatur

  • P. Dubuis, «Des horloges dans les montagnes», in Vallesia 48, 1993, 91-108
  • J. Messerli, Gleichmässig, pünktlich, schnell, 1995
  • L. Dall'Ara, L'ombra del sole, 1999
Weblinks

Zitiervorschlag

Jakob Messerli: "Zeitsysteme", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 25.01.2015. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/012813/2015-01-25/, konsultiert am 28.03.2024.