Zuwanderer aus den
ehemaligen GUS-Staaten:
Erwartungen und
Realitäten in der jüdischen Gemeinde
Von Judith Kessler
Mitschnitt eines Vortrages
- gehalten vor Sozialarbeitern jüdischer Gemeinden
Es sind jetzt - fast zehn Jahre her,
daß die Zuwanderungswelle in unsere Gemeinden begonnen hat. Inzwischen
sind wir, die Alteingesessenen zur Minorität geworden. Und beide – Alte
und Neue – haben noch immer arge Verständigungsprobleme. Ich habe ein paar
Beispiele gesammelt über unser gegenseitiges Verständnis oder besser
gesagt: 'Mißverständnis'.
Vieles davon ist nicht recht greifbar,
ist 'mental', hat mit Verletzungen, Ängsten und unterschiedlichen Codes zu
tun, die aus unseren unterschiedlichen Herkünften und Lebenskontexten
resultieren. Wenn wir etwas daran verändern wollen oder bevor wir
überhaupt über Lösungsansätze nachdenken können, scheint es sinnvoll,
danach zu schauen, wo sich die Voraussetzungen und Erwartungen beider
Gruppen unterscheiden.
Unterschiedliche Herkunft
Beginnen wir mit einem banalen Beispiel zum Stichwort 'Identität', denn
ich glaube, daß es die Summe dieser Kleinigkeiten ist, die uns den Umgang
so schwierig machen. Auf der einen Seite haben wie diejenigen, die neu
hierher gekommen sind: Da ist der Schneider aus Baku und der Bauingenieur
aus Dnepropetrowsk. Wenn wir die in einen Topf werfen, haben wir schon das
erste Problem. Dasselbe auf der Seite der Alteingesessenen: da sind
jüdische, nicht-jüdische, die sind Leute aus der Sowjetunion oder eben
nicht aus der Sowjetunion, die auch nicht in einen Topf geworfen werden
können oder wollen.
Aber was machen wir? Wir haben hier also
die Migranten, aus Russland, Moldawien oder Aserbaidshan, die auch noch
Juden sind - egal, ob es im Paß steht oder sie sich so fühlen, jedenfalls
sind sie unter dieser Prämisse hier und wir haben die Alteingesessenen
oder die Betreuer, die ebenfalls irgendeinen kulturspezifischen Background
haben, und die nun sagen: „Das sind alles Russen" - eine implizite
Beleidigung dieses anderen, der sagt: "Ich war nie Russe. Bitte schön, ich
bin aus Usbekistan, meine Mutter ist aus Kiew, mein Vater ist aus Riga"
usw. Das war doch ein Riesenland, fünfmal so groß wie der Rest von Europa.
Wie wir inzwischen wissen, sind lediglich ein Drittel der Zuwanderer aus
Rußland und auch deren Eltern kommen teilweise wieder aus anderen
Republiken. Und sie bringen bei aller 'Russifizierung' oder
'Sowjetisierung' alle Besonderheiten ihrer jeweiligen Herkunftskontexte
mit.
Gegenseitige Zuschreibungen und
Fehlwahrnehmungen
Und schon beginnen die Mißverständnisse und Ausgrenzungen, und zwar von
beiden Seiten: Denn der Migrant unterstellt uns genauso, wir
wären "deutsche Juden", obwohl auch von uns, dem 'Rest', nur die Hälfte
hier geboren oder aufgewachsen ist. Und nebenbei wird gleich noch a priori
unterstellt, daß alle Zuwanderer aufgrund ihrer Geschichte und Herkunft
geringe jüdische Bezüge habe, und daß wir auf unserer Seite vermeintlich
mehr jüdische Bezüge haben. Der Zuwanderer glaubt zunächst auch erst
einmal, daß wir den Raschi-Kommentar alle auswendig können, d.h. daß wir
jüdisch sozialisiert sind. Egal wie formal oder nicht das tatsächlich ist,
es sind wieder zwei verschiedene Verständnisse oder Mißverständnisse über
die Position beider Seiten, die – wenn sie im Umgang explizit aktiviert
werden - problematisch werden können.
Homo Sovieticus contra westlich
geprägte Sozialisation
Und dann haben beide Seiten natürlich faktisch unterschiedliche
Systemerfahrungen: Die Zuwanderer haben diese lebenslaufgewohnte,
institutionalisierte Sozialisation des 'homo sovieticus', wo man an die
Hand genommen wurde, Handlungsspielräume nicht hatte oder nicht nutzen
konnte, Verantwortung abschieben konnte, wo andere für dich entscheiden.
Wir in unserer 'Risikogesellschaft' haben ein weniger institutionalisierte
System, in dem wir stärker uns selbst überlassen sind, selbst optieren
müssen.
Wenn diese Erfahrungen aufeinander
treffen, ist es schwer, die jeweils andere Seite nachzuvollziehen und
genau aus der anderen Richtung zu gucken, um zu verstehen, was geht da in
dem Kopf jetzt ab, warum sagt der: "ich will mich ja integrieren, warum
tust DU nichts." Daneben gibt es aber auch eine individuelle Dimension.
Jeder, der da kommt, hat eigene biographischen Ressourcen, bestimmte
Lebenserfahrungen, die hier nützlich sind oder auch problematisch, und wir
auf der anderen Seite können andere haben. Es gibt bestimmte
Kulturähnlichkeiten und Kulturdifferenzen und sehr unterschiedliche
Migrationsmotive, Defizite und Ansprüche. Der 'homo sovieticus' stimmt
auch nur in einer bestimmten Dimension. Es stimmt individuell unter
Umständen überhaupt nicht. Natürlich gibt es Leute, die nach zwei Tagen
die Füße auf der Erde haben und völlig losgelöst von allem, was wir ihnen
gelegentlich unterstellen, nämlich unfähig zu sein, Verantwortung zu
übernehmen und loszulaufen. Die marschieren viel schneller los als wir
gucken können und als wir vielleicht wollen. Und wir fragen uns wieder:
wie paßt das denn nun zusammen? Andererseits kommen die Zuwanderer fast
alle aus Großstädten, sind gut ausgebildet, leistungsorientiert und
risikofreudig, und der Sozialismus war eine gute Schule, was Anpassungs-
und Improvisationsfähigkeit betrifft.
Erwartungen und Ansprüche
Die Regel ist allerdings, daß die Leute mit einem positiven
Deutschlandbild und überzogenen Erwartungen hier ankommen, und daß die
sich nicht erfüllen oder zunächst nicht erfüllen. Wir wissen, daß fast
siebzig Prozent, Männer wie Frauen, Hochschulabschlüsse haben und daß sie
in der Heimat über einen vergleichsweise hohen Sozialstatus verfügten. Aus
diesem Kontext werden sie plötzlich herausgerissen. Da ist so etwas wie
ein Kulturschock, da sind neue Normen, eine neue Sprache, die
Arbeitslosigkeit, das plötzliche Bittsteller-Sein, nachdem einer dreißig
Jahre lang Chefarzt einer Moskauer Klinik war.
Auf einmal steht er da, und sagt selbst: "Ich gehe jetzt betteln; es ist
beschämend für mich und es ist das allerletzte. Und langsam ahne ich, daß
es so bleibt". Ganze Lebenszusammenhänge werden umbewertet. Ganze
Biographien werden wertlos und der Zuwanderer findet dann unter Umständen
nicht einmal bei uns Verständnis: Wir sitzen nämlich da und sagen: "Deinen
Abschluß kannst du vergessen". Das ist realistisch, es ist objektiv, es
ist wahr - aber es kränkt.
Der Betreuer übernimmt jetzt die Position des Bösen. Er sagt diesem
Menschen, weil einer muß es ihm sagen: "Sorry, du kannst deine
Lebensgeschichte in den Mülleimer werfen". Da wo dann die Sensibilitäten
beginnen sollten, müßten, könnten - vielleicht es ihm auch schonend
beizubringen, vielleicht es auch umzukehren und in eine Richtung zu
bringen, wo er mit dieser Lebenserfahrung noch irgend etwas anfangen kann.
Die ist ja ungeheuer groß. Und sie ist ja auch ein Potential, das uns ein
Stück fehlt. Man kann doch auch froh sein, eine andere Lebensgeschichte
und andere Erfahrungen zu haben.
Abgrenzungstendenzen
Aber dazu muß die andere Seite erst einmal bereit sein zuzuhören, das zu
akzeptieren und anzunehmen. Aber das ist offenbar ein langer Weg. Wir
finden diese bewußten oder unbewußten Abgrenzungen zwischen Alten und
Neuen, aber wir finden sie auch zwischen jüdischen und nichtjüdischen
Kontingentflüchtlingen, zwischen russischsprachigen Juden und Nichtjuden
und innerhalb der jüdischen Zuwanderergruppe. Aber warum sollen Leute, die
zufällig aus einem Land kommen oder dieselbe Sprache sprechen, denn
zwingend gemeinsame Interessen haben? Alles das, was wir für uns fraglos
in Anspruch nehmen, stellen wir hier plötzlich in Frage. Klar gibt es
enorme Selbstdistanzierungen innerhalb der eigenen Gruppe. Da werden
Beziehungen aufgebaut, wie das in der alten Heimat üblich war: alle aus
Leningrad bilden eine Clique in der Schule.
Der Arbeiter aus Rostow sitzt nicht mit dem Chirurgen aus Wilna bei der
Bar-Mitzwa-Feier von XY an einem Tisch und der, der vor zwanzig Jahren
gekommen ist, nicht mit dem, der letztes Jahr eingereist ist. Aber wir
unterstellen: 'die Russen' - das ist eine homogene Masse. Natürlich gibt
es diese ganzen Schichtsysteme. Oder ideologische Differenzen: Wir haben
die Kriegskämpfer, die mit ihren Orden durch die Gegend laufen - aus ihrer
persönlichen Lebensgeschichte heraus auch nachvollziehbar. Aber es gibt
auch eine jüngere Generation von Ex-Sowjetniks, die schütteln darüber den
Kopf. Und wir selbst, wir stehen völlig fassungslos da, wenn die sich auf
einmal mit deutschen Wehrmachtssoldaten treffen wollen. Und da schluckt
man erst einmal und protestiert laut. Und dieser alte Soldat kann das
überhaupt nicht nachvollziehen: "Ihr versteht mich nicht, Ihr honoriert
mein Schicksal nicht, Ihr wollt mich nicht".
Wir können diese Sozialisation, die der andere erfahren hat, die ein Teil
seines Lebens ist, nicht nacherleben und seine Rolle nicht übernehmen, und
wir haben auch nicht seine rosarote Brille auf, mit der er retrospektiv
sein vergangenes Leben betrachtet, wenn es ihm hier schlecht geht. Wir
fragen uns nur: "Was will der denn? Jetzt läuft er hier mit seinen
Kriegsorden herum. Er feiert den 8. Mai, aber zur Gedenkveranstaltung am
9.November kommt er nicht." Aber das sind doch immer zwei unterschiedliche
Geschichten, die Geschichte der sowjetischen Juden und die Geschichte der
deutschen Juden oder der brasilianischen von mir aus. Immer zwei
Geschichten, die nicht pur verglichen werden dürfen.
Nischen im Sozialismus,
Codierungsfehler und Kommunikationsstörungen
Wir können sie nicht einmal nachvollziehen, dazu müßten wir in ihnen
gelebt haben. Auch im Sozialismus muß man vermutlich gelebt haben, um ihn
nachvollziehen zu können, diese Mechanismen von Obrigkeit und Nischen, die
Schattenwirtschaft oder die Macht von Stempeln und Unterschriften, die
offenbar alle Regeln außer Kraft setzen konnte.
Denn wir verstehen nicht, warum Zuwanderer ständig irgendwelche
'Liebesbriefe' von uns verlangen, Befürwortungen für irgendwas, was wir
nicht befürworten können, weil es nichts zu befürworten gibt. Wir
erklären: Das bringt nichts, das ist sinnlos, da können wir nicht helfen,
weil die Rechtslage ist so und so und mach doch besser das und das... und
er antwortet: Ja, aber ich will ja bloß einen Brief von der Gemeinde,
warum gibst du mir den jetzt nicht?
Es gibt also permanente Codierungsfehler, Kommunikationsstörungen. Wir
reden über ganz verschiedene Dinge, aneinander vorbei. Es lohnt sich, da
ein bißchen nachzuhaken, das alles genauer zu hinterfragen, aber bis zu
dem Punkt müssen wir erst einmal kommen. Wir haben meist wenig Zeit, wir
haben eine große Gruppe und jede von diesen Figuren, Typen, Menschen,
Leuten sind völlig unterschiedlich.
Sozialhierarchien, Prestige,
Potentiale und Verluste
Da kommt einer mit seinem Aktenköfferchen an und den alten Visitenkarten
aus Moskau und sagt: Ich bin Professor Krenischky, Kandidat der
Wissenschaften. Er war dort 'Wer' und jetzt steht er hier in der Reihe und
da sind noch fünf vor ihm dran. An denen rennt er vorbei, schließlich ist
er 'Professor Soundso, Kandidat Nauk'. Und was antworten wir: Na und?
Und schon haben wir eine neue Irritation. Er hat aus seinem Kontext heraus
völlig 'normal' gehandelt, aus dem dessen, der hinter dem Schreibtisch
sitzt natürlich nicht - der denkt: Na schön, der fünfte Kandidat Nauk
heute. Aber kaum haben wir uns das durch den Kopf gehen lassen, machen wir
unter Umständen gleich den nächsten Denkfehler: nämlich, daß nicht
unbedingt der Herr Professor das größere Sozialprestige hatte, sondern
vielleicht die Leiterin der Apotheke Nr. 93 in Derbent, die immer die
prima Pillen unterm Ladentisch verkauft hat.
Dieses System können wir schwer nachvollziehen. Trotzdem ist es nicht
egal! In der Begegnung ist dann überhaupt nicht egal. Die wundert sich
nämlich, die Apothekerin, daß wir ihr Image nicht schätzen können und wir
wundern uns, wieso sie da so selbstbewußt hineinspaziert kommen kann: "Ich
bin es so gewohnt, ich habe die Beziehungen, Schätzchen" – wieder noch
ganz anders als der 'Kandidat Nauk'. Die Apothekerin, die kommt so. Es ist
die Macht der Gewohnheit oder irgendwas. Soll heißen: Die
Sozialhierarchien, die wir hier kennen, sind anders.
Die Stellung im Verteilungsnetz war dort für vieles wesentlicher als ein
Titel. Das sind lauter Kleinigkeiten, die wichtig werden können, wenn wir
sie ignorieren. Das heißt nicht, daß wir sie 'inhalieren' sollen, aber wir
sollten zumindest mal was davon gehört haben. Oder wenn wir uns die Rolle
von alten Menschen ansehen, die sieht doch hier auch anders aus. So eine
Oma, die war nicht Hausfrau, die hat bis zur Ausreise noch gearbeitet. Was
ist sie hier? Ein Nichts! Früher hatte man einen Familienverband, alle
haben zusammen gewohnt und jetzt wird sie plötzlich von ihrer eigenen
Familie benutzt: "Paß mal auf die Kinder auf" oder in ein Altersheim
abgeschoben, weil die Kinder jetzt andere Probleme haben und genau das
tun, was hier auch Usus ist.
Es wäre also absurd zu sagen, nur der Professor erleidet einen Verlust. Es
gibt kaum eine Frau, die nicht gearbeitet hat in der Sowjetunion. Frauen
erleben genau solche Statusverluste, sie verarbeiten sie aber scheinbar
besser als Männer. Sie zeigen sich auch viel aktiver, und damit sinkt der
Status des Mannes dann noch mehr. Es geht um viele Prestige- und
Machtpotentiale oder -verluste.
Der alte Mann, dessen Rat früher immer gefragt war, sein "Ich habe Berlin
eingenommen", das will doch hier überhaupt keiner hören. Sein ganzes
bisheriges Leben wird in Frage gestellt, er sitzt vor dir und sagt: Hier
ist es gut für den Bauch, aber nicht für die Seele. Wozu brauche ich
fünfzig Sorten Brot? Ich brauche Gespräche. Oder die Kinder 'blicken
schneller durch' als ihre Eltern, sprechen schneller Deutsch, haben eher
auch deutsche Freunde. Wie muß sich der arbeitslose Vater da vorkommen,
der vor Betriebsdirektor war?
Perspektiven der
MitarbeiterInnen der Sozialabteilungen
Und wir haben doch auch so etwas wie eigene Prestigeverluste: Da steigen
Migranten schneller auf und wir denken, wir sitzen auf der falschen Seite
des Schreibtisches, denn eigentlich müßten wir die Klienten sein, weil der
andere uns zeigt, 'wo es langgeht'. Oder vielleicht ist es der Frust, weil
der liebe Zuwanderer nicht auf uns hört und nichts gut genug ist, was wir
ihm anbieten. Darüber wagen wir uns doch gar nicht laut zu reden, um nicht
in den Ruf zu kommen, 'zuwandererfeindlich' zu sein.
Tabu-Themen
Dann gibt es wieder andere stigmatisierte, tabuisierte Themen: Sexualität,
Alkohol, Kindesmißhandlung, Suizide, Kriminalität, bei denen die Klienten
so tun, als ob es sie nicht gäbe: "Darüber spricht man nicht" oder sie
bekommen beim Wort 'Psychiater' ungute Erinnerungen an deren Rolle in der
Sowjetunion.
Auf der Eingesessenen-Seite wird wiederum oft so getan, als ob Juden
bestimmte Probleme nicht hätten. Hinzukommt, daß wir – die Sozialarbeiter
- auf der 'anderen Seite' sitzen, hinterm Schreibtisch. Egal wer du bist,
egal ob du vor zwei Jahren eingewandert bist oder schon zwanzig Jahre hier
sitzt: du bist in irgendeiner Weise der potentielle 'Feind'. Der
Informationsfluß funktioniert nie ganz richtig, es ist immer ein Stück
Mißtrauen da. Soll auch sein, aber es ist ein Problem, weil bestimmte
Dinge ganz ausgeblendet werden.
Du brauchst nur ein Tag länger hier zu sein, du kannst mit dem anderen
zusammen eingereist sein. Aber jetzt sitzt du hinter diesem Schreibtisch
und schon verkehren sich die Rollen und schon bist Du 'die Gemeinde' und
auf einer anderen Ebene. Begegnest du demselben Menschen auf der Straße
oder auf einer Feier verhält er sich völlig anders, eben 'privat'. Der
'homo sovieticus', die strikte Trennung von Individuum und Gesellschaft
läuft den Menschen noch lange hinterher, ohne das sie das selbst richtig
wahrnehmen.
Gegenseitige Erwartungen
Aber sprechen wir über die großen Erwartungen, das Allgemeine auf beiden
Seiten: Da wandert jemand ein, der hat - ganz allgemein - einen
Erfolgszwang. Sein Lebensrythmus beschleunigt sich, die Migration muß sich
lohnen. Nicht unbedingt monetär, aber es muß irgend einen Sinn gemacht
haben, daß jemand sein Land verlassen hat, daß er jetzt hier sitzt.
Er muß es irgendwie schaffen, sonst war das alles umsonst und er kann sich
selbst nicht in die Augen gucken und auch Tante Lusja nicht schreiben, wie
gut es ihm hier geht. Er hat einen bestimmten Zwang. Wenn wir das im Kopf
behalten, wird ein bißchen klarer, warum viele Klienten überreagieren,
wenn sie ihre Ziele nicht sofort erreichen oder wir ihre Ziele nicht
bedienen. Daß er bestimmte Erwartungen hat, ist ja auch noch aus anderen
Gründen klar.
Zunächst mal hat er sich paradiesische Verhältnisse vorgestellt, bevor er
hierher gekommen ist, den 'goldenen Westen' eben. So und nun kommt er in
Berlin an, auf die Oranienburger Straße mit seinem Koffer, und was sieht
er? Eine riesige Synagoge mit goldener Kuppel und so weiter. Was er gehört
hat zu Hause, scheint sich erst einmal zu bestätigen, in bezug auf das
Land, aber auch auf die Gemeinde: "Aha, reiche Gemeinde und so ein
Gemeindehaus, und so schicke Sessel, und der Pförtner mit Video, die
müssen doch helfen können". Und wenn dem dann nicht so ist, lautet die
Schlußfolgerung: "Die wollen bloß nicht!" Das erleben wir täglich.
Und das wird zusätzlich oft sehr persönlich, weil wir jetzt 'die' Gemeinde
sind, nicht Judith Kessler oder Moishe Pischer, sondern 'die' Gemeinde.
Und die will nicht helfen, weil du etwas abgelehnt hast oder "der andere
hat bekommen, obwohl ich doch viel schlimmer daran bin" und überhaupt,
"die anderen sind sowieso alle keine echten Juden" usw. Diese Auskunft
oder Ablehnung zu entpersonalisieren, ist ein Problem für den Klienten,
und für den Betreuer: der muß auch lernen, daß sein Gegenüber bestimmte
Vorstellungen mitbringt und gerade von der Gemeinde erwartet, bevorzugt zu
werden und daß er eine Art Konkurrenzkampf mit den anderen führt.
Da findet doch sehr schnell auch ein sozialer Vergleich statt, mit dem,
was man hier sieht und was man bei anderen sieht. Seine Defizite, die will
man doch jetzt auch kompensieren. Sozialbeziehungen hatte ich ja, ich
hatte ja funktionierende Netze zwischen Freunden und Kollegen; was ich
nicht hatte sind bestimmte materielle Geschichten. Und Wohnen ist wichtig,
Arbeit kommt danach, erst mal eine Nische haben, so wie man sie dort auch
hatte.
Wieder diese Trennung zwischen Privat und Gesellschaft, die bleibt ja erst
mal für den Einzelnen. Denn er wird weiterhin nicht mit dieser
Gesellschaft umgehen. Er wird wieder Privatier sein und er wird natürlich
erst mal zehn Wohnungen ablehnen oder x-mal umziehen, weil er weiß, das
ist jetzt seine Heimat, diese 93 qm oder 23. Aber unsere Vorstellung oder
die unserer Mitglieder ist: "Die kommen doch vom Knast ins Paradies. Die
sollen gefälligst dankbar und zufrieden sein, was wir ihnen alles Feines
bieten: von der Gemeinschaftswohnung in die schicke Sozialbauwohnung" usw.
Ich war in der Ukraine, ich habe gesehen wie furchtbar das da aussieht.
Aber der Arzt hatte trotzdem eine schöne Wohnung im Stadtzentrum. Es ist
nicht nur so, wie wir glauben. Aber wir lieben unsere Klischees. Beide
Seiten. Die eine sagt: „Ihr könntet ja, ihr wollt bloß nicht oder ihr
wollt uns nicht" und die andere Seite erwartet Dankbarkeit und sagt: „Hör
mal, der Billigkugelschreiber, den ich dir anbiete, der muß dir doch bitte
schön genügen. Was willst du denn noch, da wo du herkommst?" Es sind
eigentlich ähnliche Geschichten, nur unter jeweils anderen Vorzeichen.
Die Neuzuwanderer nehmen wahr, daß ihre Bedürfnisse nicht bedient werden
und wir sind enttäuscht, daß unsere nicht bedient werden, weil wir
dachten, jetzt kriegen wir endlich die blühende 'Kehille' (Anm:
Gemeinde) und die 'Bereicherung', von der alle so gern sprechen. Denn
die allgemeine Erwartung aus unserer Sicht wiederum war doch: Wir erneuern
hier das jüdische Leben. Wir haben nicht mehr zu fürchten um den Erhalt
der jüdischen Gemeinden. Da kommen auf einmal so viele, prima! Und die
sollen jetzt partizipieren, aktiv werden, ihr Judentum ausleben." Das sind
doch aber zwei völlig verschiedene Sachen. Wie wollen wir die
zusammenbekommen?
Religiöses Leben
Wir machen Kabbalat Schabbat (Anm: G-ttesdienst am Freitagabend zum
Beginn des Schabbat), besorgen transkribierte Texte, Rabbiner,
Übersetzer und streiten uns mit dem Restaurant herum, daß sie das Essen
billiger machen. Und dann erklärt der Rabbiner die Rituale, einer hält
eine nette Begrüßungsrede - "Prima, daß Ihr da seid, wir wissen, daß es
schwer ist, aber wir hoffen, Ihr fühlt euch bald zu hause" - und eine
Zuwanderin steht auf und sagt: "Ja, aber die Gemeinde tut nichts für uns",
der Rest nickt bedächtig und wir sitzen da, vor unserem Festgedeck und
sind wieder mal frustriert. Das ist, was ich meine, mit unterschiedlichen
Erwartungen.
Wir haben gemeint - und viele, die die
Gruppe nur von weitem kennen, haben da immer noch romantische Klischees -
, da würde jetzt ein Dissident nach dem anderen und ein David Oistrach und
Scholem Alejchem nach dem anderen durch die Tür kommen, um uns zu
'bereichern'. Die gibt es natürlich auch, aber meistens ist es ein
Bauingenieur, Otto-Normal-Verbraucher eben, und der will uns nicht "a
jiddische Mame" vorsingen, sondern der braucht eine Wohnung oder einen
deutschen Führerschein. Der Neue kommt doch zunächst mal, weil er Hilfe
braucht und wir ein Bezugspunkt sind. Schließlich sind wir die Jüdische
Gemeinde und er ist Jude. Und da sind auch ein paar Leute, die sprechen
Russisch und die sollen ihn jetzt an die Hand nehmen, ihn 'integrieren'.
Grundsätze jüdischer
Sozialarbeit
Damit korrespondieren ja auch unsere eigenen jüdischen Sozialprinzipien:
Zedaka, Dialogprinzip, Anerkennung von Regelungsbedarf, Hilfe zur
Selbsthilfe usw. Wir wollen unbürokratisch sein; wir wollen
personenzentriert sein; wir wollen ein Gegenpol zur staatlichen
Sozialarbeit sein. Sind wir ja auch. Wir haben einen Anspruch: "Verflucht
sei, wer das Recht des Fremdlings beugt", internalisierte Prinzipien, eine
sozio-moralische Verantwortung, die an einem religiösen Ideal gemessen
wird, an einer Gruppenzugehörigkeit und an einer geschichtlichen
Erfahrung: Schoah, 2000 Jahre Exil usw.
Allerdings stimmen die Prinzipien nur noch wenig mit unserer alltäglichen
Realität überein. Und hier stehen wir uns ständig selbst im Wege. Denn das
läßt sich alles wunderbar gegeneinander ausspielen. Schlicht: Ich bin
Jude, du mußt mir helfen!" bzw. „Er ist Jude, ich muß ihm helfen!".
Da geht es nicht um Sinn und Unsinn der
Hilfe, sondern ums Prinzip: "Ich muß helfen, weil er ist, was er ist". Das
führt zu unklaren Grenzen, Gruppendruck, Ideologisierungen, Doublebinds,
Ausnutzung, Überforderung - die ganze Palette, oder zu
Gewissenskonflikten, wenn wir beispielsweise unkorrekte Verhaltensweisen
decken oder tolerieren, nur weil ein Klient Gemeindemitglied oder verwandt
mit 'XY', und weil wir oder unsere Vorstände oft nicht in der Lage sind
davon zu abstrahieren und auf die eigentliche Sache zu gehen: 'Schtetl-Mentalität
versus Professionalität' - mir fällt kein besseres Wort ein. Diese Sachen
sollten so nicht funktionieren, tun sie aber...
>>>
Zum 2.Teil
Judith Kessler ist Soziologin und
hat ihre Magisterarbeit zum Thema "Integration von Zuwanderern aus den
GUS-Staaten" geschrieben. Neben der Sozialarbeit mit den Zuwanderern ist
ein anderer Arbeitsschwerpunkt die redaktionelle Arbeit in der monatlich
erscheinenden Zeitung der jüdischen Gemeinde zu Berlin.
Beispiel Berlin:
Jüdische
Migration aus der ehemaligen Sowjetunion seit 1990
Juden und jüdisches Leben in Berlin
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