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1. Mai-Demonstrationen in Hamburg Karneval der Karikaturen

Am 1. Mai treffen sich im Hamburger Stadtteil Sternschanze traditionell Demonstranten, um Dinge auf Polizisten und Wasserwerfer zu schmeißen - das nennt man dann "Krawalle". Was soll das Theater noch?
Ausschreitungen in Hamburg am 1. Mai 2014

Ausschreitungen in Hamburg am 1. Mai 2014

Foto: Alexander Koerner/ Getty Images

"Wenn Sie hier nicht wohnen, kommen Sie hier nicht durch!" Mit diesem Satz lernte ich 2008, dass man genau eine Sache sehr schnell erledigen sollte, wenn man in die "Schanze" zieht: die neue Adresse anmelden. Denn da stand ich, 23 Jahre alt, gerade in der großen Stadt am Hafen gelandet und wohnhaft in 20357 Sternschanze. Und durfte nicht zu meiner Wohnung. Wie konnte das bitte passieren?

Auf meinem Personalausweis stand, dass ich noch in Köln angemeldet war. Und wer am 1. Mai nicht in der Schanze wohnt, kommt nicht durch die Absperrung der Polizei. Auch dann nicht, wenn man es mit Wut, Drohungen, Tränen, Erklärungen und Schmeicheleien versucht, ja, wenn man es besonders damit versucht. "Aber wartense einfach hier, das dauert ja nie länger als 'ne Stunde."

Schon damals hätte ich verstehen müssen, was ich erst heute langsam begreife: Dieses Spektakel ist einstudiert, ein kleines Theaterstück, das nicht bloß jene, die zuschauen, unterhält, sondern auch alle, die mitmachen. Und das nicht nur am 1. Mai, sondern an jedem anderen Tag auch.

"Die Schanze", wie sie hier genannt wird, gilt zusammen mit St. Pauli als Ort des Exzesses, der Eskalation und irgendwas mit Vergnügen. Ein Stadtteil, in dem Künstler, "Kreative" und Punks wohnen, einer jener Orte, die ein bisschen wild und ein bisschen kaputt sind. Zumindest war das mal so. Das erzählen sich die Schanzen-Bewohner und zahlreiche Stadtführer, die eine Schanzenkultur beschwören, die nur noch in Worten aber schon lange nicht mehr in der Realität existiert.

Damit hier endlich mal was eskaliert

Denn: Die Demonstrationen sind nicht nur in Berlin zu einer Farce verkommen, sondern auch in Hamburg. Dort werden um 21 Uhr vor dem 1. Mai vereinzelte Blockaden von vermeintlichen Links-Autonomen errichtet. Nachts passiert dann irgendwas mit Polizei und Vermummten und Böllern, irgendwer schreit irgendwas, um 3 Uhr morgens ist Ruhe, man muss ja noch genügend Energie für den kommenden Tag aufsparen.

Und dann, am 1. Mai schließlich, findet sich der ordinäre Demonstrant gegen Mittag wieder auf dem Schulterblatt ein (das ist die Hauptstraße der Schanze). Und nun wird nicht mehr geprobt, nun wird getobt bis es brennt. Spätestens um 17 Uhr wird mindestens das Schulterblatt abgesperrt und Fahrzeuge mit vielen, vielen Polizisten darin fahren mit Blaulicht und Alarm gen Schanze - schließlich muss sich der Aufwand ja auch lohnen. Ein paar Hundertschaften, drei Wasserwerfer und brennende Mülltonnen später stehen sich Schwarzer Block und Polizei gegenüber.

SPIEGEL ONLINE

Und weil das ein bisschen langweilig mit der Zeit wird, und irgendwo bestimmt jemand Ärger macht, spritzen die Wasserwerfer schon mal Wasser auf Demonstranten und Zuschauer, damit hier endlich mal was eskaliert. Das ist das Zeichen für den Einsatz der Linken, die sogleich beginnen, mit Steinen, Bierdosen, Flaschen und Molotow-Cocktails auf die Beamten zu zielen. Die Polizei rückt vor, es wird ein bisschen gekämpft und festgenommen und wenn um 21 Uhr genug Menschen verhaftet wurden, zieht die Exekutive wieder von dannen und in der Flora wird getanzt und ein bisschen lamentiert und getrunken, auf die Anarchie.

Hier wohnt niemand, hier geht man nur flanieren

Festgenommen werden 15-25 Vermummte, von denen nur zwei überhaupt sagen können, wogegen sie demonstrieren. Die anderen kommen aus Pinneberg und wollten auch mal was schmeißen, oder aus allen Teilen Deutschlands, weil ja immer irgendwo irgendeine Demo ist. Irgendwer filmt das Ganze von oben und streamt es via Periscope und um spätestens 18 Uhr melden die ersten Medien, dass "die Krawalle noch schlimmer als im letzten Jahr" seien. Der Typ vom "Kauf dich glücklich Store" (sehr teure Kleidung, die sehr hip verkauft wird) wechselt eh schon nicht mehr die eingeschlagenen Scheiben, denn er findet es irgendwie hip und urban und man muss sich ja wehren, das "gehört zur Schanze" oder so.

Die Wahrheit ist: Hier passiert eigentlich absolut nichts. Das Schanzenviertel ist schon seit vielen Jahren kein Ort mehr, an dem sich jemand, der "Anarchie lebt", auch nur einen Kaffee leisten könnte. Frisörläden und Bekleidungsgeschäfte wechseln sich ab und haben nach und nach fast alle alteingesessenen Lokalitäten verdrängt.

Die Demonstrationen sind bloß die Show, die dem hippen Schanzenbewohner geboten wird, damit er auch sieht, dass trotz 1500 Warmmiete hier alles wie immer ist. Dabei findet der wahre Kampf gegen den viel zu knappen Wohnraum, gegen Rassismus, Benachteiligung und Massentourismus hier gar nicht mehr statt. Die Schanze ist ein verlassenes Schlachtfeld. Investoren haben gekauft, Flagship-Stores eröffnet, die alten Mieter aufgegeben.

So bleibt von den 1.Mai-Protesten lediglich das, was auch schon das berüchtigte "Schanzenfest" im März zeigte (das eine Art Warm-up für den 1. Mai ist): All die Demonstrationen, das Steine-Schmeißen und die Prügeleien haben keinen Investor, keinen Store-Besitzer aufgehalten. Kaputte Scheiben und brennende Mülleimer sind einen Tag später wieder vergessen. So, wie auch all jene, die wegziehen mussten, weil die Mieten stiegen. So, wie all die Bars, Gemüseläden und kleinen Geschäfte, die nach und nach verschwunden sind.

Der 1. Mai ist kein Kampf mehr gegen all das - sondern bloß noch Hülle und Karikatur, Unterhaltung und einstudierte Choreografie für genau die, die es eigentlich zu bekämpfen galt - aufgeführt von denen, die schon lange nicht mehr hier wohnen.