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Zugriff in Libyen Wie die Nato Gaddafi jagte

Die Rolle der Nato bei der Jagd auf Libyens Diktator war größer als bisher bekannt: Das Bündnis verfolgte die Operation aus der Luft, entscheidend war offenbar ein Hilferuf Gaddafis per Satellitentelefon. Handy-Videos lassen erahnen, wie die letzten Stunden des Despoten verlaufen sind.
Von Yassin Musharbash und Matthias Gebauer

Die Nacht vor seinem Tod verbringt Muammar al-Gaddafi mit rund einem halben Dutzend Mitgliedern seiner Entourage. Das berichtet einer seiner Fahrer. "Du warst also noch gestern (am Mittwoch, Red.) bei Gaddafi?", fragt ihn der selbst nicht im Bild auftauchende Interviewer. "Ja", antwortet der um die 60 Jahre alte Fahrer, der ebenfalls namentlich nicht vorgestellt wird. "Wir hielten uns in einem Haus in der 'Area 2' in Sirt auf." Der Fahrer ist sichtlich erschöpft, verwirrt, verunsichert. Vermutlich fragt er sich, was nun aus ihm werden wird - jetzt, da der Mann, der ihn fast 25 Jahre lang bezahlte, tot ist und ihn nicht mehr schützen kann.

Auch als Gaddafi am Donnerstag gefunden wurde, befand sich der Fahrer noch in seiner unmittelbaren Nähe: "Ich war in einer der Betonröhren, er in der anderen", sagt er.

Das Video, augenscheinlich aufgenommen in der libyschen Stadt Misurata, nur Stunden nach Gaddafis gewaltsamem Tod, ist eines von Dutzenden Zeugnissen in Bild, Ton und Schrift, in dem tatsächliche und angebliche, glaubwürdige und dubiose Augenzeugen berichten, was am Todestag Gaddafis geschah. Das Material kursiert vor allem im Internet, die Authentizität ist nicht immer klar - aber in der Summe, übereinandergelegt, erlauben die Auskünfte eine erste, grobe und vorläufige Rekonstruktion des letzten Tags im Leben des gefürchteten und zuletzt untergetauchten Diktators Muammar al-Gaddafi.

Fotostrecke

Letztes Gefecht in Sirt: Ende eines Diktators

Foto: REUTERS/ Libyan TV

Der letzte Fluchtversuch scheitert

Der beginnt demnach mit einem Fluchtversuch. Irgendwann am frühen Morgen verlässt ein größerer Konvoi die Stadt Sirt, in der Gaddafi geboren wurde. Sirt, lange das letzte Widerstandsnest von Gaddafi-Loyalisten, hatte den Angriffen der Rebellen nicht mehr viel entgegenzusetzen und stand vor dem Fall. Vermutlich befand sich vor dem Ausbruchversuch des Diktators nur noch die "Area 2" in der Hand der Loyalisten, ein Gebiet von einigen hundert Quadratmetern.

Gegen 8.30 Uhr Ortszeit gerät der Konvoi gleich von zwei Seiten aus in Bedrängnis: Nato-Kampfjets werfen Bomben ab und stellen sicher, dass die Fahrzeugkolonne nicht mehr weiterfahren kann. Von der anderen Seite nähern sich die Rebellen.

Inzwischen gibt es immer mehr Hinweise darauf, dass die Rolle der Nato-Militärs und der westlichen Geheimdienste, die sich am Tag des Todes von Gaddafi mit Äußerungen auffällig zurückhielten, größer war, als bisher bekannt. Die Nato teilte am Freitag überraschend mit, zwei Luftschläge der Allianz hätten "wahrscheinlich" bei der Festnahme Gaddafis geholfen. Zum ersten Mal räumte die Nato damit eine direkte Beteiligung an der Operation ein.

Aus dem militärischen Flügel des Übergangsrats hieß es am Freitag sogar, dass "unsere Freunde" aus dem Ausland die Rebellen erst auf die Spur Gaddafis in Sirt gebracht und die gesamte Operation aus der Luft genau beobachtet hätten. Demnach sei von Geheimdiensten ein Gespräch Gaddafis am Abend vor seinem Tod abgefangen worden, das er mit einem vor Monaten in Tripolis von westlichen Journalisten konfiszierten Satellitentelefon geführt habe.

Verzweifelter Hilferuf aus Gaddafis Unterschlupf

Nach Monaten des Rätselns über Gaddafis Aufenthaltsort konnte durch das verzweifelte Telefonat, in dem der einstige Machthaber hektisch versucht haben soll, frische Truppen von Söldnern nach Sirt zu befehligen, erstmals der genaue Aufenthaltsort Gaddafis bestimmt werden. Glaubt man den Rebellen, reichten die Geheimdienste die Daten an eine Kämpfereinheit aus Misurata weiter. Diese sollten Gaddafi in Sirt aufspüren.

Aus der Luft, das bestätigt die Nato-Mitteilung, haben die westlichen Helfer der Rebellen die Operation genau verfolgt. Als sich schließlich am frühen Morgen aus einem Anwesen, von dem aus das Satellitentelefonat geführt worden war, ein Konvoi von 80 Militärfahrzeugen absetzen wollte, feuerten zunächst französische Kampfjets auf ihn, dabei wurden nach Nato-Angaben elf Militärfahrzeuge mit reichlich Munition an Bord getroffen.

Wenig später schlug das Militärbündnis erneut zu. Nachdem sich aus dem großen Konvoi rund 20 Autos weiter in Richtung Süden bewegten, wurden sie erneut aus der Luft attackiert und so gestoppt. In unmittelbarer Nähe zerrten die Rebellen Gaddafi später aus dem Abwasserrohr. Vorsorglich betonte die Nato, das Bündnis habe zur Zeit der Luftschläge nicht gewusst, dass sich Gaddafi in dem Fahrzeugkonvoi befand.

Es ist unklar, aber durchaus möglich, dass Gaddafi bereits zum Zeitpunkt des Luftangriffs verwundet ist. Sicher scheint, dass er mit einigen letzten Getreuen den Konvoi verlässt und zu Fuß flüchtet. Er sucht und findet Unterschlupf in einer großen Betonröhre, wahrscheinlich Teil einer Abwasseranlage. Zu diesem Zeitpunkt lebt Gaddafi definitiv noch.

Gefangennahme im Abwasserrohr

Bald aber finden die Rebellen ihn - und seine Entourage. "Wir standen oberhalb des Lochs, wo Gaddafi sich versteckt hielt", berichtet ein junger Mann in brauner Lederjacke in einem Video, das über Facebook verbreitet wird. "Wir sahen zwei, die sich dort versteckten und schossen auf sie… Ahmed ging herunter und tötete zwei. Später drangen wir von der anderen Seite ein und sahen vier oder fünf Männer flüchten. Sie ergaben sich und sagten, dass Gaddafi sich drinnen versteckt, und dass er verletzt ist. Als wir in das Loch stiegen, erkannte ich seine buschigen Haare und nahm ihn sofort fest." Zum Beweis, dass er wirklich dabei war, legt der Kämpfer einen Revolver auf den Tisch und ein Satellitentelefon. "Das Blut auf dem Revolver ist Gaddafis", sagt er.

Es lässt sich nicht verifizieren, ob wirklich dieser oder ein anderer Rebell Gaddafi festnahm - aber in jedem Fall wird Gaddafi aus der Abwasserröhre gezogen und fällt in die Hände einer ganzen Gruppe von Kämpfern.

In einem Handy-Video, das vermutlich den Moment unmittelbar danach zeigt, ist Gaddafi von Dutzenden aufgeregten, schreienden Rebellen umzingelt. Er blutet im Gesicht, auch sein Hemd ist blutgetränkt. "Du Hund", schreit ihn einer der Kämpfer immer wieder an. "Misurata, Misurata", ruft er - aber es ist unklar, ob er damit vorschlägt, den Gefangenen nach Misurata zu bringen, ob er den Namen der Stadt als Erinnerung anruft, als Racheschwur. Oder ob er Gaddafi sagen will: Die Männer aus Misurata sind es, die dich festnehmen.

Gaddafi wird auf einen Pick-up verfrachtet

Ein weiteres Video scheint kurz darauf aufgenommen worden zu sein. Es zeigt, wie Gaddafi auf einen schwarz-gelben Pick-up verfrachtet wird. "Lebendig! Lebendig!", schreit ein Mann. Aber auch hier ist unklar, was er meint: dass Gaddafi noch lebt - oder dass er am Leben bleiben soll und nicht etwa gelyncht wird.

Ein anderer Kämpfer wedelt mit einem Schuh vor Gaddafi herum, um ihn zu schmähen. "Das ist sein Schuh, sein eigener Schuh!", ruft er ungläubig. Es herrscht Chaos, Schüsse fallen im Hintergrund, die meisten Männer schreien immer wieder "Gott ist groß". Ein Mann ruft: "Der Sieg, der Sieg ist da!"

Gaddafi geht es zu diesem Zeitpunkt offenbar schlechter. In seinem Gesicht ist deutlich mehr Blut zu sehen. Zwar ist er bei Bewusstsein und murmelt auch - was er sagt, bleibt unverständlich. Er wischt sich über die Stirn, beschaut seine Hand, es wirkt, als finde er die Situation selbst unwirklich. Es gibt Spekulationen, dass einer der Rebellen ihm mit einem Revolver auf den Kopf geschlagen hat, was den Blutstrom erklären könnte.

Der Pick-up setzt sich in Bewegung, Gaddafi wird offenbar auf der Motorhaube fixiert, von Rebellen umringt. Sie wollen ihn vorführen, so scheint es.

Wie starb Gaddafi?

Was nun passiert, ist schlechter dokumentiert. Aber es deutet einiges darauf hin, dass Gaddafi im Verlauf der nächsten Stunden stirbt - entweder noch in Sirt oder auf dem Weg nach Misurata, wo am Nachmittag zweifelsfrei seine Leiche ankommt. Al-Dschasira strahlte ein Video aus, das zeigt, wie der schwerverletzte Gaddafi wieder von dem Pick-up heruntergezogen und über den Boden geschleift wird. Vielleicht zeigt diese Szene den Transport zu dem Krankenwagen, in dem er dann angeblich auf den Weg nach Misurata gebracht wurde. Aber auch hier scheint er noch zu leben - ganz klar ist das freilich nicht.

Im Raum stehen damit mehrere Möglichkeiten: Gaddafi könnte Wunden erlegen sein, die er bei dem Angriff auf seinen Konvoi erlitt. Er könnte an den Folgen von Verletzungen gestorben sein, die ihm bei oder nach der Festnahme zugefügt wurden. Es könnte ein Kreuzfeuer gegeben haben, irgendwann zwischen diesen beiden Ereignissen, bei dem er verletzt wurde. Oder er wurde gezielt erschossen.

Dem Sender al-Arabija zufolge sagte ein Arzt, der Gaddafis Leiche untersuchte, dieser sei nach seiner Festnahme durch Kugeln getötet worden.

Es gibt ein weiteres Video von einem Kämpfer, der in der Tat behauptet, er habe auf Gaddafi geschossen - und ihn auch getroffen: An der Schläfe und in die Schulter. Dass der Mann, der sein Geburtsjahr mit 1980 und seinen Heimatort mit Bengasi angibt, am Donnerstag dabei war, scheint glaubhaft: Er zeigt einen goldenen Ring herum, der Gaddafi gehört haben soll - auf anderen Videos ist zu erkennen, dass Gaddafi tatsächlich einen trug. In den Ring sei ein Datum eingraviert, der 1. September 1970. Außerdem zeigt der Mann eine blutverschmierte Militärjacke vor, von der er sagt, auch diese habe er Gaddafi abgenommen. Ob er sich nur wichtig machen will oder tatsächlich der Todesschütze war: Das bleibt aber offen. Zumal angeblich auch andere Männer behaupten, auf ihn geschossen zu haben, und andere ebenfalls mit Trophäen aufwarten, wie etwa einem vergoldeten Colt, den Gaddafi dabei hatte.

War Gaddafis Aufenthaltsort bekannt?

Der Übergangsrat scheint einstweilen allerdings unwillig, den genauen Todeshergang aufzuklären. Derzeit, so heißt es aus Libyen, werde erst einmal geklärt, wo und auf welche Weise Gaddafi bestattet wird. Sicher scheint nur zu sein, dass ihm ein Begräbnis nach islamischem Ritus gewährt werden soll. Denkbar auch, dass der genaue Ort geheim bleiben wird.

Gaddafi hielt sich offenbar schon mindestens acht Wochen lang in Sirt auf. "Nach dem Fall von Tripolis", berichtete Mansour Daw, der frühere libysche Sicherheitsdienstchef dem Sender al-Arabija, "ging ich nach Sirt, wo ich Gaddafi fand und bei ihm lebte." Daw zufolge nutzte Gaddafi die Wohnhäuser geflüchteter Verwandter. Am Anfang habe Gaddafi sich tatsächlich auf Unterstützer in der Stadt verlassen können, aber je stärker die Kämpfe wurden, desto mehr von ihnen hätten Sirt verlassen. In seinen letzten Tagen, so Daw, sei Gaddafi zunehmend besorgt gewesen. "Aber er hatte keine Angst."