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Angela Merkel Kohls unterschätztes Mädchen

Sie wurde belächelt, sie wurde bekämpft und unterschätzt. Ab heute hat die Republik mit Angela Merkel die erste Kanzlerkandidatin in ihrer Geschichte - das Ergebnis von persönlicher Beharrlichkeit und politischem Zufall.

Berlin - Angela Merkel war wütend. "Ich habe ihm gesagt, dass ich ihn irgendwann genauso in die Ecke stellen werde. Ich brauche dazu noch Zeit, aber eines Tages ist es so weit. Darauf freue ich mich schon." Das war vor acht Jahren. Gerhard Schröder war niedersächsischer Ministerpräsident, Merkel Bundesumweltministerin, beide stritten über Energiepolitik.

Seit heute ist Merkel die erste Kanzlerkandidatin der Republik. Nun kann sie Schröder nicht nur in die Ecke drängen. Sie wird ihn womöglich aus Berlin vertreiben. Die Republik steht im Bundestagswahlkampf vor einer Premiere: Mann gegen Frau, Frau gegen Mann. In der SPD-Spitze heißt es: "Die Tonalität des Umgangs wird eine andere sein." Das werde "von der Bevölkerung erwartet".

Wird es nun ganz kuschelig? Eine Version des Soft-Wahlkampfes, wie ihn Nordrhein-Westfalen erlebte? Jürgen Rüttgers, der Sieger von Düsseldorf, hob nach der Wahl die hohe Zustimmung der Frauen für die NRW-CDU hervor. Das, so der Christdemokrat, habe auch am Stil seines Wahlkampfes gelegen.

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Angela Merkel: Zwölf Fotos aus zwölf Jahren

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Rüttgers gegen Peer Steinbrück, das war mehr Charme als Schärfe. Geht es in den kommenden Wochen auf der Bundesbühne so weiter? Auf dem Kirchentag begegneten sich kürzlich ein zahmer SPD-Chef Franz Müntefering und eine ebenso zahme Angela Merkel. Ein Hauch von Großer Koalition lag da schon in der Halle auf dem Messegelände in Hannover.

Merkels Start

Die SPD wird Merkel nicht unterschätzen. Denn die Verantwortlichen im Parteiapparat wissen: Diese Frau ist nicht zu unterschätzen. Merkels eigentlicher Aufstieg begann 1999 unter denkbar ungünstigen Verhältnissen, als die Partei in der CDU-Spendenaffäre in ihre tiefste Krise geriet. Mit einem in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" veröffentlichten Brief trieb sie den Abnabelungsprozess vom Übervater Helmut Kohl voran, der sie einst liebevoll "mein Mädchen" genannt hatte. Das glich einer christdemokratischen Kulturrevolution; es war der Pfälzer, der sie einst als Frauenministerin ins Kabinett geholt hatte und später zur Umweltministerin machte. Nachdem auch Wolfgang Schäuble als Parteichef in den Sog der Spendenaffäre geriet, war ihr Aufstieg nicht mehr aufzuhalten.

An der Spitze hat sie alle Turbulenzen und Anfeindungen überstanden. Es gibt manche in der Union, die es ihr nicht zutrauten. Und es bis heute nicht tun. Doch im Augenblick ist das kein Thema. Im Wahlkampf bleiben die Reihen geschlossen.

Im Jahre 2002 ließ sie Edmund Stoiber den Vortritt. Der bayerische Ministerpräsident hielt sich auch nach der knappen Niederlage lange Zeit eine zweite Kanzlerkandidatur offen. Heute schlug er sie als Kandidatin vor.

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Der Sieg der CDU in Nordrhein-Westfalen besiegelte ihren Anspruch. Aber vielleicht wird eines Tages in den Geschichtsbüchern stehen, dass ausgerechnet zwei Sozialdemokraten Merkels Weg zur Kanzlerin ebneten.

Denn Schröders und Münteferings Entscheidung für vorgezogene Neuwahlen ließ den Männern in der Union keinen Raum mehr für taktische Spielchen. Merkels Widersacher können im Moment nur abwarten. Auch ein Oskar Lafontaine setzte auf Zeit, als er 1998 Schröder die Kandidatur und damit die Kanzlerschaft überlassen musste. Das Ende ist bekannt: Schröder blieb, der Saarländer gab auf. Merkel hat gezeigt, dass sie als Partei- und Fraktionschefin Widersacher überleben kann. Einer verlor schließlich die Nerven und warf die Brocken hin: Friedrich Merz.

Umfragen sehen Union vor

Im Augenblick hat Merkels Partei ein fettes Wählerpolster: 47 Prozent werden in Umfragen CDU und CSU zugeschrieben. Wechselstimmung liegt in der Luft. In den Medien wird der Abschied des Gerhard Schröder intoniert. Eine Kanzlerin an der Spitze einer Regierung? Die Republik hat damit kein Problem. 74 Prozent erklären, es spiele "gar keine Rolle", welches Geschlecht der Spitzenkandidat oder die Kandidatin habe.

Und doch bleiben Restzweifel, mit denen Merkel schon immer leben musste. 71 Prozent glauben, dass es eine Frau schwerer haben wird als ein Kanzler. Tatsächlich trennt sie Welten von Roland Koch, Christian Wulff und Friedrich Merz, die in der Jungen Union das Strippenziehen von der Pike auf lernten. Merkel wird immer eine Quereinsteigerin bleiben.

Sie ist eben die Kandidatin, die aus dem Osten kam. Als Helmut Kohl 1982 durch ein konstruktives Misstrauensvotum in Bonn an die Macht kam und die "geistig-moralische Wende" ausrief, ließ sie sich in der DDR gerade von ihrem Mann scheiden. In zweiter Ehe ist sie mit einem Wissenschaftler verheiratet. Auf der Suche nach Wohnraum "besetzte" sie leer stehende Altbauwohnungen in Ost-Berlin, um sie dann nachträglich bei den DDR-Behörden ganz legal anzumelden. Das mag für westdeutsche Christdemokraten nach Anarchismus klingen und sie an die Alternativszene der frühen achtziger Jahre erinnern - dabei ist Merkels Leben in der DDR mit westdeutschen Kategorien eben gerade nicht zu fassen.

Merkel war, wie die meisten in der DDR, Mitglied der FDJ, Sekretärin für Agitation und Propaganda an der Akademie der Wissenschaften. Das wurde ihr gelegentlich später angekreidet - wirklich geschadet aber hat es ihr dann doch nie, auch weil ihre Funktion unbedeutend war. Ihr Leben in der DDR hat sie in der CDU lange nicht thematisiert, vermutlich, weil sie niemanden irritieren und sich keinen verstörenden Fragen aussetzen wollte.

Erst in den vergangenen Monaten, etwa auf dem CDU-Parteitag in Düsseldorf, vor CSU-Delegierten in München, hat sie über einzelne Episoden gesprochen. Darüber, dass sie nur im elterlichen Haus wirklich offen miteinander reden konnten. Oder über die Vernachlässigung von Behinderten in der DDR. Es ist der Versuch, mit Bruchstücken aus der eigenen Biographie die Seele der Partei zu erreichen, die doch weitgehend im Westen verankert ist.

Der Weg zur CDU



Ihr Weg in die CDU war im Wendeherbst 1989 nicht vorgezeichnet. Als die Mauer fiel, mussten sich die Oppositionellen in der DDR erst politische Partner im Westen suchen. Manche stießen zu den Grünen, zur SPD, andere über Umwege zur CDU. In die SPD ging Merkel nicht, weil sie schon die Anrede "Genosse" störte. Sie kam schließlich zum libertären "Demokratischen Aufbruch", der dann, auch in Ermangelung anderer Möglichkeiten, der Ost-CDU beitrat. "Ich wollte in den Bundestag. Ich wollte eine schnelle deutsche Einheit, und ich wollte die Marktwirtschaft", zitiert sie die Korrespondentin der "Süddeutschen", Evelyn Roll, in dem Buch "Das Mädchen und die Macht".

Es wurde viel darüber geschrieben, dass die gelernte Physikerin Merkel in der Politik handelt wie in einer Versuchsanordnung: also vom Ende her denke. Doch das sind Zuschreibungen, die den oft unberechenbaren Verlauf der Politik zu fassen versuchen - Merkels Einsatz für die Gesundheitsprämie etwa endete in einer Mixtur, weil die CSU und Stoiber sie nicht in Reinform wollten.

Merkels Aufstieg an die Spitze der Union begann vor sechs Jahren. Doch was wäre sie heute ohne die CDU-Spendenaffäre? Würde sie noch CDU-Generalsekretärin sein? Oder wäre sie Ministerpräsidentin in Mecklenburg-Vorpommern, wo die gebürtige Hamburgerin mit ihren Eltern aufwuchs? Oder Bundesministerin in einem Kabinett unter Wolfgang Schäuble, der lange als natürlicher Kanzlerkandidat galt?

Merkels Verbündeter auf dem Weg zur Kanzlerkandidatur war auch Kollege Zufall. Gleichzeitig besaß sie die Fähigkeit, schneller als andere Chancen zu erkennen und zu ergreifen. Sie besitzt politischen Instinkt. Den Parteivorsitz hat Merkel erfolgreich verteidigt und sich heute die Spitzenkandidatur erobert. Die Kanzlerschaft aber steht noch aus.

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