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Abgeordnete Neues Maueropfer

Die SED-Nachfolgepartei PDS nutzt den Freitod eines Genossen für den Versuch, die Stasi-Debatte abzuwürgen.
aus DER SPIEGEL 9/1992

Der Tag war für den Jenaer PDS-Bundestagsabgeordneten Professor Gerhard Riege, 61, gar nicht gut gelaufen.

Seine eigene Partei hatte, am Freitag vorletzter Woche, den Befund der Berliner Stasi-Akten-Behörde öffentlich gemacht, daß Riege von 1954 bis 1960 dem Spitzelapparat als »Kontaktperson« zu Diensten war. Und dann mußte sich der Staatsrechtler, nachts kurz nach elf Uhr, auch noch Vorwürfe von einer Bekannten anhören.

Am Telefon konfrontierte Krista Maria Schädlich, geschiedene Frau des ehemaligen DDR-Schriftstellers Hans Joachim Schädlich, den Abgeordneten mit seiner Vergangenheit. Riege habe, so der Vorhalt, den damaligen Dekan der juristischen Fakultät in Jena, Arno Hübner, Ende der fünfziger Jahre mit Berichten bei der SED denunziert. Das habe dazu beigetragen, daß Hübner, der Vater von Krista Maria Schädlich, vorzeitig in den Ruhestand versetzt wurde - angeschwärzt von seinem geistigen Ziehsohn Riege.

Riege bestritt die Vorwürfe. Um 23.30 Uhr war das Gespräch beendet.

Am Mittag des folgenden Tages verließ Riege seine Jenaer Wohnung im Dornbluthweg. Stunden später fand ihn ein Bekannter im Garten seines Geunitzer Wochenendhauses, wenige Kilometer außerhalb der Stadt. Gerhard Riege hatte sich erhängt.

In einem Abschiedsbrief begründete Riege seinen Selbstmord mit der »Angst vor der Öffentlichkeit, wie sie von Medien geschaffen wird«, gegen die er sich »nicht wehren« könne, und vor dem »Haß«, der ihm »im Bundestag entgegenschlägt«, wo er schon letztes Jahr von Koalitionsabgeordneten niedergeschrien worden war (siehe Seite 37).

Der Freitod des stillen PDS-Hinterbänklers, von Politikern aller Lager mit routinierter Betroffenheit kommentiert, schürte neue Emotionen. Im ohnehin hitzig geführten Streit über den rechten Umgang mit der Stasi-Altlast wurde Rieges Schicksal umgehend, Pietät hin, Pietät her, für politische Zwecke instrumentalisiert.

So verbreiteten Bonner Riege-Freunde unter der Überschrift »J''accuse - Gerhards Tod ist eine Anklage« eine Erklärung, in der unter anderem »der Großinquisitor« Joachim Gauck, Chef der Stasi-Akten-Behörde, und »jene Medien, die sich zu Inquisitoren machen«, für den Freitod verantwortlich gemacht wurden.

PDS-Chef Gregor Gysi, selber unter dringendem Stasi-Verdacht, ließ sich vernehmen, die Bewältigung der Vergangenheit werde derzeit ersetzt »durch sensationsgeile Medien, deren Vertreter die Zerstörung von Persönlichkeiten bewußt in Kauf nehmen«. Ein Fraktionsmitarbeiter weiß auch von »der Tendenz in der PDS-Gruppe, die Aufklärung ganz zu stoppen«.

Und die PDS-Zeitung Neues Deutschland, ehemals das Verlautbarungsblatt jener SED, der die Stasi als »Schild und Schwert« diente, ortete in Riege gar eines der »ersten prominenten neuen Maueropfer« - gemeint war die Mauer in den Köpfen, die Ossis und Wessis noch immer trennt.

Daß zumindest Verwirrung herrscht in den Köpfen, zeigten auch Äußerungen von eingeschworenen PDS-Gegnern. _(* Am Donnerstag vergangener Woche. ) Der Erfurter Parlamentspräsident Gottfried Müller (CDU) etwa behauptete, der Suizid sei »ein Beispiel, daß Schlagzeilen töten können«.

Schlagzeilen allerdings hatte es über den weithin unbekannten Riege bis zu dessen Tod kaum gegeben. Weder Zeitungen noch Fernsehen nahmen von den Stasi-Diensten des Juristen sonderlich Notiz. Die PDS selbst hatte, nach einer freiwilligen Überprüfung ihrer Abgeordneten durch die Gauck-Behörde, die Details über Riege per Presseerklärung publik gemacht. Von 15 Abgeordneten ihrer Gruppe, so gab die SED-Nachfolgepartei vorvergangene Woche bekannt, hätten 3 als Stasi-Zuträger gearbeitet.

Der Literaturhistoriker Ilja Seifert, 40, war von 1980 bis 1983 und von 1986 bis 1987 Kontaktperson und Inoffizieller Mitarbeiter. Er lieferte Berichte über Personen, die möglicherweise als künftige Inoffizielle Mitarbeiter angeworben werden sollten. Seifert bleibt dennoch Mitglied des Bundestages.

Die Abgeordnete Jutta Braband, 42, schrieb von 1971 bis 1975 gegen kleine Honorare Berichte für die Stasi. Die Modedesignerin, die sich 1979 zur Dissidentin wandelte und ausgespäht wurde, hatte mit ihrer Spitzelarbeit zur Verhaftung von wenigstens drei DDR-Bürgern beigetragen. Sie will ihr Mandat niederlegen. Im Gegensatz zu Riege hatte Jutta Braband ihre Stasi-Mitarbeit jedoch bereits im September 1991 öffentlich bekannt. Zum selben Zeitpunkt erklärte sich auch Seifert, zumindest gegenüber den Abgeordneten der PDS.

Die Enttarnung Rieges als Stasi-Informant aber kam für die Abgeordneten von PDS und Linker Liste völlig überraschend. In ihrer Presseerklärung rügten sie denn auch, einen Tag vor Rieges Tod, dessen monatelanges Schweigen.

Angespannt war die Atmosphäre auch, als sich PDS-Funktionäre am vorletzten Freitag zu einer außerordentlichen Sitzung im Speisesaal der Erfurter Landesgeschäftsstelle trafen. Riege, leger in Pullover und Hose gekleidet, hatte ein Bündel Zettel mitgebracht, auf denen er die entscheidenden Passagen der ihn belastenden Akten notiert hatte. Dabei ging es vor allem um *___eine negative Beurteilung für einen Jenaer ____Uni-Mitarbeiter, die er vor Jahren abgegeben hatte; *___einen Auftrag, auf einer Auslandsreise einen ____Westdeutschen mit bestimmtem Ziel zu kontaktieren; *___das Ansinnen der Stasi, seine Privatadresse als ____Deckadresse zur Verfügung zu stellen, was er abgelehnt ____habe.

Viele Genossen sprachen ihm das Vertrauen aus, so der thüringische PDS-Ländervize Dieter Strützel: »Für mich ändert sich nichts. Da ist nichts Ehrenrühriges dabei.« Andere machten kein Hehl aus ihrer »Enttäuschung«.

Bis zuletzt kämpfte der Staatsrechtler Riege, noch immer überzeugter Kommunist, um sein Ansehen. In der Partei versicherte er, »nichts absichtlich verschwiegen« zu haben. Er habe »jedoch mit keiner Silbe« mehr an seine damalige Stasi-Mitarbeit gedacht.

Zu den Anfeindungen in Bonn wie in Erfurt kam Angst um die berufliche Zukunft. Mit Anwaltshilfe stritt Riege um die Wiedereinstellung als Professor an _(* Im Oktober 1990 im Bundestag. ) der Jenaer Universität. Dort war er zwar während der Wendezeit zum Rektor gewählt worden. Erneuerer weigerten sich jedoch, einen einstigen SED-Funktionär an der Hochschulspitze zu dulden.

»Ehemals einflußreiche Funktionäre sollten im zweiten oder dritten Glied, nicht wieder ganz vorne stehen«, forderte etwa der neue Uni-Rektor Ernst Schmutzer. Riege-Gegner wiesen Formfehler im Wahlverfahren nach, Ende 1990 wurde der ehemalige Dekan der Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät entlassen.

Am Ende jedoch lenkte die Leitung der Friedrich-Schiller-Universität ein. Der neue Vertrag lag vorvergangene Woche unterschriftsreif in der Schublade. Nachdem die PDS ihn jedoch per Pressemitteilung geoutet hatte, mußte Riege mit neuen harschen Auseinandersetzungen an der Hochschule rechnen.

Auch die Stasi-Akten in der Gauck-Behörde bargen womöglich noch Ärger für Riege. So fand der 1983 ausgebürgerte DDR-Dissident Roland Jahn in Gauck-Akten einen Bericht des Reisekaders Riege. Darin beschreibt der Professor eine Begegnung mit Jahn, der auch nach seiner Ausbürgerung noch von DDR-Agenten bespitzelt wurde, bei einer öffentlichen Veranstaltung in der Jenaer Partnerstadt Erlangen 1987.

Offenbar hielt Riege noch damals zu Stellen des Ministeriums für Staatssicherheit Verbindung: »Seitens der KD (Kreisdienststelle) Jena . . . besteht offizieller Kontakt zu Prof. Riege«, heißt es in der Akte.

Daß Riege nun zum Symbol dafür erhöht werden soll, wie falsch »die gegenwärtige Art und Weise der Aufarbeitung der Vergangenheit« (Gysi) laufe, stieß Ende letzter Woche auch in der PDS auf Kritik.

Rieges Platz im Bundestag sollte auf Wunsch der Listen-Nachrückerin Ruth Fuchs als »Mahnung gegen die Verlogenheit und Unbarmherzigkeit der bundesrepublikanischen Gesellschaft« unbesetzt bleiben. Den Verzicht will die Bonner Parlamentariergruppe jedoch nicht akzeptieren.

Ein Fraktionsmitarbeiter: »Pragmatismus geht hier vor Symbolik.«

* Am Donnerstag vergangener Woche.* Im Oktober 1990 im Bundestag.

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