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Dokument 18 Sozialstaatlicher Leistungsausbau in der Ära der sozial-liberalen Koalition. Kurzcharakteristik durch die Wirtschaftswissenschaftlerin Hannelore Hamel
Urheber Hannelore Hamel
Bestand/Sign. Hannelore Hamel, in: dies. (1Ig.), Soziale Marktwirtschaft - sozialistische Planwirtschaft, München 1989, S. 49

Sozialstaatlicher Leistungsausbau in der Ära der sozial-liberalen Koalition. Kurzcharakteristik durch die Wirtschaftswissenschaftlerin Hannelore Hamel

Die 1969 gebildete sozialliberale Regierungskoalition trat mit einem umfangreichen Reformprogramm an, das unter dem Motto "Kontinuität und Erneuerung" und "Fähigkeit zum Wandel" stand. An die Stelle des bisherigen Strebens nach ständig steigendem Wachstum der Produktion sollten nunmehr qualitative Veränderungen der Produktionsstruktur im Interesse einer steigenden „Lebensqualität'' treten. In weiten Kreisen der Bevölkerung wich die Leistungsbereitschaft zunehmend einem Sicherheits- und Anspruchsdenken. verbunden mit der Forderung nach höheren sozialen Leistungen des Staates. Dieser Forderung entsprach die neue Regierung mit ihrem Reformprogramm. Allein in den Jahren 1969 bis 1975 wurden rd. 140 10 Gesetze und Verordnungen zugunsten von öffentlichen Zuwendungen oder Sonderrechten für (tatsächlich oder vermeintlich) sozial benachteiligte Gruppen erlassen: Erkrankte Arbeiter erhielten Lohnfortzahlung bis zu sechs Wochen (1969); Arbeitslose bekamen - neben Arbeitslosengeld bzw. -hilfe- vielfältige Förderungsmittel, z. B. für Fortbildung, Umschulung, Rehabilitation und Umzug (1969); die AusbiIdung von Schülern, Studenten und Berufsfachschülern wurde gefördert (BAföG 1971); der Leistungsumfang der gesetzlichen Krankenversicherung wurde erweitert, z. B. durch Vorsorgeuntersuchungen (ab 197I), zeitlich unbegrenzte Krankenhauspflege. Haushaltshilfe u. a. (ab 1974); für Rentner wurden der Krankenversicherungsbeitrag abgeschafft (ab 1970) und die flexible Altersgrenze eingeführt (1972); für Schwerbeschädigte mußten private und öffentliche Arbeitgeber 6 vH der Arbeitsplätze bereitstellen (1974); Eigentümer von Eigenheimen oder Wohnungen erhielten "für familiengerechten Wohnraum" Lasten- bzw. Mietzuschüsse deren Bemessungsgrenze den gestiegenen Lasten bzw. Einkommen angepaßt wurde (1970); alle Familien erhielten steuerfreies Kindergeld vom 1. Kind an (1975); der Mutterschutz wurde erhöht (1971/1974) - um nur einige der vielfältigen Sozialmaßnahmen zu nennen, die aus öffentlichen Mitteln zu finanzieren waren.
Insgesamt erhöhten sich die sozialen Leistungen des Staates im Zeitraum 1970 bis 1980 von 83,9 Mrd. DM auf230,64 Mrd. DM. Da hiermit ein zunehmender Normen- und Bürokratiebedarf verbunden war, stiegen im gleichen Zeitraum die öffentlichen Personalausgaben von 70,76 auf 162,66 Mrd. DM um 130 vH und der Sachaufwand von 70,2 auf 176,3 Mrd. DM um über 35 150 vH. Die öffentlichen Ausgaben insgesamt in Relation zum Bruttosozialprodukt (Staatsquote) erreichten damit 1980: 48,6 vH gegenüber 1970: 39,1 vH. Die Konsequenzen dieser staatlichen "einnahmeorientierten Ausgabenpolitik" waren zum einen eine ständig wachsende Staatsverschuldung von durchschnittlich 15 vH pro Jahr (sie betrug 1980 insgesamt ( 460 Mrd. DM); zum anderen wurde damit die marktmäßige Faktorallokation1 immer stärker in den Staatssektor verlagert.

1 Faktorallokation: Verteilung der Produktionsfaktoren (Arbeit, Kapital, Boden), die zu optimieren Ziel rationellen Wirtschaftens ist.




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