Sozialstaatlicher Leistungsausbau in der Ära der sozial-liberalen Koalition. Kurzcharakteristik durch die Wirtschaftswissenschaftlerin Hannelore Hamel Die 1969 gebildete sozialliberale Regierungskoalition trat mit einem umfangreichen Reformprogramm an, das unter dem Motto "Kontinuität und Erneuerung" und "Fähigkeit zum Wandel" stand. An die Stelle des bisherigen Strebens nach ständig steigendem Wachstum der Produktion sollten nunmehr qualitative Veränderungen der Produktionsstruktur im Interesse einer steigenden „Lebensqualität'' treten. In weiten Kreisen der Bevölkerung wich die Leistungsbereitschaft zunehmend einem Sicherheits- und Anspruchsdenken. verbunden mit der Forderung nach höheren sozialen Leistungen des Staates. Dieser Forderung entsprach die neue Regierung mit ihrem Reformprogramm. Allein in den Jahren 1969 bis 1975 wurden rd. 140 10 Gesetze und Verordnungen zugunsten von öffentlichen Zuwendungen oder Sonderrechten für (tatsächlich oder vermeintlich) sozial benachteiligte Gruppen erlassen: Erkrankte Arbeiter erhielten Lohnfortzahlung bis zu sechs Wochen (1969); Arbeitslose bekamen - neben Arbeitslosengeld bzw. -hilfe- vielfältige Förderungsmittel, z. B. für Fortbildung, Umschulung, Rehabilitation und Umzug (1969); die AusbiIdung von Schülern, Studenten und Berufsfachschülern wurde gefördert (BAföG 1971); der Leistungsumfang der gesetzlichen Krankenversicherung wurde erweitert, z. B. durch Vorsorgeuntersuchungen (ab 197I), zeitlich unbegrenzte Krankenhauspflege. Haushaltshilfe u. a. (ab 1974); für Rentner wurden der Krankenversicherungsbeitrag abgeschafft (ab 1970) und die flexible Altersgrenze eingeführt (1972); für Schwerbeschädigte mußten private und öffentliche Arbeitgeber 6 vH der Arbeitsplätze bereitstellen (1974); Eigentümer von Eigenheimen oder Wohnungen erhielten "für familiengerechten Wohnraum" Lasten- bzw. Mietzuschüsse deren Bemessungsgrenze den gestiegenen Lasten bzw. Einkommen angepaßt wurde (1970); alle Familien erhielten steuerfreies Kindergeld vom 1. Kind an (1975); der Mutterschutz wurde erhöht (1971/1974) - um nur einige der vielfältigen Sozialmaßnahmen zu nennen, die aus öffentlichen Mitteln zu finanzieren waren. 1 Faktorallokation: Verteilung der Produktionsfaktoren (Arbeit, Kapital, Boden), die zu optimieren Ziel rationellen Wirtschaftens ist. |