Kultur

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03.10.14

Haruki Murakami erhält "Welt"-Literaturpreis 2014

Am 7. November wird Haruki Murakami der "Welt"-Literaturpreis 2014 verliehen. Die Jury würdigt ihn als "bedeutendsten zeitgenössischen Schriftsteller Japans". Die Laudatio hält Clemens J. Setz.

Von Leitender Feuilletonredakteur

Herr Tazaki konstruiert Bahnhöfe. Das scheint keine besonders spannende Tätigkeit zu sein, kommt es dabei doch weniger auf Originalität als auf Funktionalität an. Aber wer einmal in Japan reiste, ahnt, welcher Perfektionismus am Werk sein muss, um ein solches Verkehrswesen auf die Schiene zu setzen.

Herr Tazaki ist eine typische Murakami-Figur: ein Durchschnitts-Single Mitte dreißig, beruflich recht erfolgreich, privat unglücklich, und es stellt sich heraus, dass sein ganzes Erwachsenenleben um ein schwarzes Loch kreist: Zu Beginn seines Studiums haben von heute auf morgen seine vier besten Jugendfreunde jede Verbindung zu ihm abgebrochen – ohne dass er den Grund dafür wüsste.

Haruki Murakamis jüngstem Roman "Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki" liegt ein "unerhörtes Ereignis" zugrunde – weniger symbolhaft surreal als in vorherigen Büchern, wo schon einmal zwei Monde am Himmel stehen –, aber doch etwas, was den reibungslosen Ablauf unserer Lebensfahrpläne ins Stocken bringt. Betriebsstörungen muss der Bahnhofsingenieur einkalkulieren, dafür braucht es Fluchtwege, Notausgänge, klare Zeichen. Der Romanautor Haruki Murakami schafft aus solchen Abweichungen seine Erzählkonstruktionen. In seinem dreibändigen Epos "1Q84" wird eine wacklige Fluchttreppe an der Tokioter Stadtautobahn zum Tor in eine Parallelwelt.

Tunnel und Geheimgänge

Tunnel und Türen, Trampelpfade und Geheimgänge sind wiederkehrende Motive in Murakamis Romanbauten. Dass die mit den Sinnen und der Vernunft erschließbare Wirklichkeit allerlei Übergänge in andere Welten bietet, ist eine Grundannahme seiner Variante des Magischen Realismus, der gar nicht magisch, sondern nur realistisch in einem weiteren Verständnis ist. Was hier psychedelischer Pop, was fernöstliche Spiritualität, was Kafka-Zitat ist, das mögen die Philologen herausfinden. Murakami ist nicht zuletzt deshalb ein Weltstar (und regelmäßiger Kandidat für den Nobelpreis), weil er solche Kategorien übersteigt.

Am 7. November wird Haruki Murakami im Rahmen eines Festaktes im Berliner Axel-Springer-Haus der "Welt"-Literaturpreis 2014 verliehen. Die Laudatio hält der österreichische Schriftsteller Clemens J. Setz. In der Begründung der Jury heißt es: "Haruki Murakami ist der bedeutendste zeitgenössische Schriftsteller Japans. In seinem Werk verbindet er die große Tradition der europäischen und amerikanischen Moderne mit Einflüssen aus der Popkultur und der Genreliteratur wie etwa Kriminalroman und Fantasy. Mit Romanen wie 'Mister Aufziehvogel' oder 'Tanz mit dem Schafsmann' schuf er eine ganz eigene Spielart des Magischen Realismus, der die Seelenzustände japanischer Großstadtbewohner wie selbstverständlich ins Übersinnliche transzendiert."

Er schuf eine ganz eigene Spielart des Magischen Realismus, der die Seelenzustände japanischer Großstadtbewohner wie selbstverständlich ins Übersinnliche transzendiert
Aus der Jury-Begründung

Zugleich habe er in Werken wie "Untergrundkrieg" oder "Nach dem Beben" die aktuellen Terror- und Katastrophenerfahrungen unserer Gegenwart eindringlich zum Thema der Literatur gemacht. Murakamis genauer Blick auf die Isolation des Individuums, auf die alltäglichen Verlusterfahrungen in Freundschaften, Familien- und Liebesbeziehungen weite sich immer wieder zur Betrachtung grundsätzlicher Fragen der Conditio humana. In seinen Romanen und Erzählungen habe Murakami "eine unverwechselbare Art der erzählerischen Reflexion entwickelt, in der die Komplexität der Form der existenziellen Dimension seiner Stoffe entspricht und deren Verbindung von Leichtigkeit und Ernst Leser auf allen Kontinenten fasziniert".

Der sechzehnte "Welt"-Literaturpreisträger

Haruki Murakami wurde am 12. Januar 1949 in Kyoto geboren. Nach seinem Studium der Theaterwissenschaft gründete er in Tokio eine Jazzbar. Ende der Siebzigerjahre begann er mit dem Schreiben. Er ist Autor zahlreicher weltweit erfolgreicher Romane und Erzählungsbände und wurde in etwa fünfzig Sprachen übersetzt. Sein Durchbruch in Deutschland gelang ihm mit den Romanen "Mister Aufziehvogel", "Gefährliche Geliebte", "Naokos Lächeln" und "Tanz mit dem Schafsmann" sowie mit dem Erzählungsband "Wie ich eines schönen Morgens im April das 100%ige Mädchen sah".

Nach Jonathan Franzen (2013), Zeruya Shalev (2012), Albert Ostermaier (2011), Claude Lanzmann (2010), Philip Roth (2009), Hans Keilson (2008), Daniel Kehlmann (2007), Rüdiger Safranski (2006), Yasmina Réza (2005), Amos Oz (2004), Jeffrey Eugenides (2003), Leon de Winter (2002), Pat Barker (2001), Imre Kertész (2000) und Bernhard Schlink (1999) ist Haruki Murakami der sechzehnte "Welt"-Literaturpreisträger. Der mit 10.000 Euro dotierte Preis erinnert an Willy Haas, der 1925 "Die literarische Welt" gründete. Zur Jury gehören der britische Verleger Lord George Weidenfeld, "Welt"-Feuilletonchef Cornelius Tittel, und Richard Kämmerlings, Leiter der "Literarischen Welt".

In der kommenden Woche erscheint im Dumont Verlag ein neuer Band mit Erzählungen von Murakami auf Deutsch, noch vor der englischen Übersetzung. "Von Männern, die keine Frauen haben" lautet der auf Hemingways berühmte Storysammlung "Men Without Women" anspielende Titel. In der Buchmessen-Ausgabe der "Literarischen Welt" am 4. Oktober drucken wir exklusiv eine vollständige Erzählung vorab: "Das eigenständige Organ".

Auch hier bricht eine höhere Macht in den Alltag eines Menschen ein. Murakamis Geschichten sind Orte, an denen Neues beginnt, Knotenpunkte, wo sich das Gewöhnliche und das Unerhörte begegnen, wo man von der Routine ins Abenteuer umsteigen kann. Mit dem Bahnhofsbauer hat der Schriftsteller viel gemeinsam. Nicht zurückbleiben, bitte!

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