Morgen ist morgen

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Diese Geschichte meiner kleinen Sammlung ist inzwischen kein Geheimtip mehr – sie ist besonders beliebt bei allen, die gerne Geschichten erzählen und kommt von weit her – ein Jüdisches Märchen aus Afghanistan. Möge seine Weisheit  uns ein Stück begleiten!

Erzählt von Moira Thiele
Aus dem Projekt „Jüdische Geschichten aus aller Welt“

Morgen ist Morgen

Es war einmal ein guter und gerechter König, der ging oft in Verkleidung und unerkannt durch die Straßen seiner Hauptstadt, um zu erfahren, was die Leute wirklich dachten. So war er einmal bis vor die Tore der Stadt gekommen, dorthin, wo die armen Leute wohnten.

Es war schon dunkel geworden, da hörte er auf einmal frohen Gesang, und er sah  noch Licht in einer armen Hütte. Er schaute durchs Fenster und erblickte einen Juden, der sang und sprach gerade den Segen über sein kärgliches Abendbrot.

Der König klopfte an die Tür: „Ist es gestattet, einzutreten?“

„Nur herein“, sagte der Jude, „setz dich zu mir, was für einen reicht, reicht auch für zwei.“ Als sie so beieinander saßen und miteinander aßen, fragte der König: „Wovon lebst du?“

„Ich bin Flickschuster“, sagte der Jude, „jeden Morgen gehe ich mit meinem Werkzeugkasten durch die Stadt und die Leute bringen mir ihre Schuhe auf die Straße.“

„Und was ist, wenn du morgen keine Arbeit findest?“ fragte der König.

„Morgen?“ sagte der Flickschuster. „Morgen ist morgen! Gott sei gesegnet Tag um Tag.“

Doch als der Schuster am nächsten Tag in die Stadt kam, da standen an allen Ecken und auf den Plätzen Soldaten, die riefen:

„Befehl des Königs, Befehl des Königs! In dieser Woche ist es verboten Schuhe zu flicken auf den Straßen der Stadt!“

„Seltsam“, dachte der Schuster, „seit wann machen Könige sich Gedanken über Flickschuster? Aber gut, dann werde ich Wasser in die Häuser tragen. Wasser brauchen die Leute jeden Tag.“ Das tat er und am Abend hatte er so viel verdient, dass es zu einer Mahlzeit reichte. Sogar zu einer Mahlzeit für zwei, denn wieder kam, unerkannt, der König zu ihm.

„Ich habe mir Sorgen um dich gemacht“, sagte der König, „wie hast du denn heute dein Brot verdient trotz des königlichen Verbotes?“

Der Schuster erzählte es ihm.

„Und was ist, wenn du morgen keine Arbeit findest?“ fragte der König.

„Morgen?“ sagte der Schuster. „Morgen ist morgen. Gott sei gesegnet Tag um Tag.“

Doch am nächsten Morgen hörte er schon vor dem Stadttor die Soldaten rufen: „Befehl des Königs! Befehl des Königs! In dieser Woche ist es verboten, Wasser zu tragen durch die Straßen der Stadt!“

„Seltsam“, dachte der Schuster, „was doch die Könige für Einfälle haben!“

„Nun gut, dann werde ich Brennholz hacken und in die Häuser bringen.“

Und er holte seine Axt und hatte am Abend genug verdient für eine Mahlzeit für sich und seinen Gast, der ihn beim Essen wieder fragte:

„Und was ist, wenn du morgen keine Arbeit findest?“

„Morgen?“ sagte der Schuster. „Morgen ist morgen. Gott sei gesegnet Tag um Tag.“

Doch als der Schuster am nächsten Morgen ins Stadttor trat, rief ihn der Hauptmann der Wache an: „Du da mit der Axt. Befehl des Königs: Jeder, der heute mit einer Waffe die Stadt betritt, wird eingezogen, um im Palast des Königs Wache zu stehen. Bring deine Axt heim. Der König leiht dir dieses Schwert.“

Und mit dem Schwert in der Hand musste der Schuster den ganzen Tag Wache stehen und verdiente nicht einen Dinar, denn den Sold gab es immer erst am Monatsende.

Aber der Schuster wusste sich zu helfen. Abends ging er auf dem Heimweg zum Krämer und sagte: „Freund, ich habe heute nicht einen Dinar verdient und ich rechne mit einem Gast. Gib mir, was ich zum Abendbrot brauche, und nimm dafür das hier!“ – und er zog das königliche Schwert aus der Scheide, als Pfand.

Zuhause ging er gleich in seine kleine Werkstatt, schnitt sich ein Schwert aus Holz zurecht und steckte es in die Scheide.

Als der König kam und den gedeckten Tisch sah, sogar mit mehr Speisen als sonst, wunderte er sich sehr. Der Schuster erzählte ihm, wie es ihm an diesem Tag ergangen war und zeigte ihm schmunzelnd das hölzerne Schwert.

„Aber was ist, wenn sich der Hauptmann morgen das Schwert zeigen lässt?“ fragte der König. „Morgen?“ sagte der Schuster. „Morgen ist morgen. Gott sei gesegnet Tag um Tag.“

Als der Schuster aber am anderen Morgen zum Palast kam, wartete der Hauptmann schon auf ihn, und er zog einen Mann in Ketten hinter sich her: „He, du da. Komm her! Der hier ist ein Mörder. Du sollst ihm auf der Stelle den Kopf abschlagen!“ schrie er ihn an.

Der Schuster erschrak. „Das kann ich nicht und will ich nicht!“ rief er, „das kannst du nicht von mir verlangen!“  –  „Oh doch, das kann ich“, sagte der Hauptmann, „es ist ein Befehl des Königs. Wenn du dich weigerst, ist dein Kopf dran!“ 

Angelockt durch den Streit strömten viele Neugierige zusammen.

Der Schuster schaute in die Augen des Verurteilten. Es waren gute Augen. Das war kein Mörder! Dann schaute er auf zum Himmel und rief mit lauter Stimme:

„Gott des Himmels und der Erde, Du Herr über Leben und Tod! Wenn dieser Mann ein Mörder ist, so soll ihm mein Schwert den Kopf abschlagen. Doch wenn er unschuldig ist, dann verwandle du den scharfen Stahl meiner Klinge in Holz!“

Und er zog das Schwert aus der Scheide, reckte es zum Himmel und alle sahen: es war zu Holz geworden.

Da brach ein unbeschreiblicher Jubel aus, die Menge lobte Gott und im gleichen Augenblick kam der König aus dem Palast in den Hof herab, ging auf den Schuster zu, gab sich zu erkennen, umarmte ihn und sprach:

„Ich war dein Gast, sei du nun der meine. Von heute an sollst du mein erster Ratgeber sein!“

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Sehr sehens- und hörenswert: Eine ganz besonders schöne Version auf englisch erzählt Noa Baum unter dem Titel „The Wooden Sword“.

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