Dem Tod davongelaufen

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Wie neun junge Frauen dem Konzentrationslager entkamen

»Wir wollen leben und werden es wagen, weil wir dieses wunderbare, freie, abenteuerliche Leben zurückhaben wollen.« Diesen Satz schreibt unmittelbar nach Kriegsende Suzanne Maudet, eine französische Deportierte, der im April 1945 auf dem Todesmarsch zusammen mit acht Mitgefangenen die Flucht aus den Fängen der Nazis glückt.

Zusammen sind sie neun Freundinnen, sechs aus Frankreich, zwei Holländerinnen und eine Spanierin. Alle sind sie von den Nazis gefangen genommen und in das Konzentrationslager Ravensbrück deportiert worden. Im Frauenaußenlager Leipzig-Schönefeld des KZ Buchenwald mussten sie für den Rüstungskonzern HASAG Zwangsarbeit leisten und Panzerfäuste anfertigen.

Bei der Räumung des Lagers im April 1945 fassen sie den Entschluss, zu fliehen und sich zu den amerikanischen Linien durchzuschlagen. Unterwegs begegnen sie Bauern und Dorfbewohnern, umherirrenden Soldaten und Kriegsgefangenen, stets mit dem Risiko, denunziert zu werden oder vom Geschützfeuer der letzten Artilleriegefechte zwischen sich auflösender Wehrmacht und vorrückenden Alliierten getroffen zu werden. Aber auch unerwartete Hilfe wird den flüchtenden Frauen zuteil. Nach acht abenteuerlichen Tagen stoßen sie auf amerikanische Truppen und sind endlich in Sicherheit.

Das Überraschende dieser Geschichte ist ihr allen Gefahren trotzender Charme, der übermütige, schelmische Humor, der selbst den ernstesten Situationen noch eine Situationskomik abzugewinnen vermag. Es ist diese jugendliche, fast unbekümmerte Frische, die vor einem Hintergrund, der dramatischer kaum sein könnte, die Farbe dieses außergewöhnlichen Textes ausmacht. Er vibriert geradezu vor Lebenslust und Optimismus, ist beflügelt von euphorischer Vorfreude auf die Freiheit.

Bereits 1945/46 verfasst, ist diese literarische Neuentdeckung ein kleines Juwel.

Maudet, Suzanne: Dem Tod davongelaufen. Wie neun junge Frauen dem Konzentrationslager entkamen. Aus dem Französischen von Ingrid Scherf, Hg. v. Patrick Andrivet & Pierre Sauvanet, Verlag Assoziation A 2021, 128 S., 16,00 €, Bestellen?

LESEPROBE

„Wir marschieren bis zum Dunkelwerden und dann beginnt zweifellos die Albtraum-Nacht, unsere schlimmste Nacht in Deutschland: Marschieren … immer weiter marschieren … lautes Schrittgetrappel, das nie aufhört … dieses quälende Aufschlagen des Holzes auf dem Pflaster … blind mit der Stirn auf den Rücken der Vorderleute auflaufen … und ständig denen vor dir auf die Hacken treten … die Streitereien und die bissigen Kommentare … die Beinmuskeln, die derartig schmerzen und trotz allem automatisch ihren Dienst tun … die bloßen Füße brennen in den Holzpantinen und sind voller Blasen … und jeder Aufbruch ist so mühsam nach dem kleinsten Halt … die Augen, die unter den schweren Augenlidern trüb werden … und die Augen, die, wenn man sie öffnet, etwas sehen, was nicht existiert (warum schneidet mir der Löwe von Metro-Goldwyn-Mayer, der hinter den kurzen Holzlatten eines Fabrikwagens hervorlugt, so schreckliche Grimassen? Die ganze Nacht lang hat Jackie einen Mann gesehen, der am Straßenrand saß und seine Zeitung las: »Aber wie macht er das? Er sieht doch gar nichts«, sagte sie.) Und die Augen, die sich öffnen und nur das sehen, was wirklich da ist: die verkrampft am Straßenrand liegenden Leichen, die armen abgemagerten Leiber, die vor Erschöpfung oder im Maschinengewehrfeuer gestorben sind, die Hände noch in einer flehenden Geste vor das Gesicht gehoben.

Aber die Erschöpfung kommt und geht; gegen zwei Uhr haben wir einen Energieschub. Christine und ich, wir laufen etwas links von der Kolonne und geben den Schritt vor, um die anderen mitzuziehen, wir singen mit lauter Stimme unsere Wanderlieder, unsere Lieder des Lebens, der Liebe und der Hoffnung. Wir wissen jetzt, dass wir uns davonmachen werden. Vielleicht wird es hart werden, aber wir wollen leben und werden es wagen, weil wir dieses wunderbare, freie, abenteuerliche Leben zurückhaben wollen, den Wind der Landstraßen, die Sonne, das Gras, die Kameradinnen, die Kameraden, und den Kampf unserer Jugend.“

Maudet, Suzanne: Dem Tod davongelaufen. Wie neun junge Frauen dem Konzentrationslager entkamen. Aus dem Französischen von Ingrid Scherf, Hg. v. Patrick Andrivet & Pierre Sauvanet, Verlag Assoziation A 2021, 128 S., 16,00 €, Bestellen?

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