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Churchill und die Deutschen: "Feist, aber machtlos"

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Churchill und die Deutschen "Feist, aber machtlos"

Englands Premier Winston Churchill bewunderte und fürchtete die Deutschen. Nach den Weltkriegen sah er in der territorialen Einheit des ehemaligen Gegners den Kern des Übels - und wollte Bayern und Württemberg wohl zu Österreich schlagen.

Für den 31-jährigen Staatssekretär aus dem fernen Großbritannien war der Aufenthalt in Deutschland eine ziemlich mühselige Angelegenheit. Bis zu zwölf Stunden saß Winston Churchill im Sattel und folgte Gastgeber Kaiser Wilhelm II., der in der weißen Uniform der schlesischen Kürassiere an der Spitze des Gefolges ritt. Jeden Abend folgten Banketts in voller Uniform, die stets bis kurz vor Mitternacht dauerten, und am nächsten Morgen wurde der Brite schon "gegen drei oder vier Uhr geweckt, um den Sonderzug zu besteigen, der uns zu irgendeinem Punkt des Schlachtfeldes brachte". Schließlich wohnte Churchill als offizieller Besucher dem preußischen Heeresmanöver in Schlesien bei.

Trotz der Beschwernisse war Churchill von seinem Gastgeber durchaus angetan, der sich persönlich um den "lieben Winston" kümmerte, was dieser wohlgefällig registrierte. Man schrieb den Herbst 1906, und Winston Churchill besuchte das erste Mal Deutschland. Zwei Weltkriege musste der legendäre Premierminister während seines neunzigjährigen Lebens gegen das Reich führen, und es erstaunt insofern nicht, dass er zeitweise Vernichtungsphantasien nachhing: "Wir werden Deutschland zu einer Wüste machen, ja zu einer Wüste", verkündete er im Sommer 1940.

Aber es gab auch andere Phasen; da schwärmte Churchill von den "vielen Ruhmestaten der deutschen Rasse" und war Fürsprecher guter deutsch-britischer Beziehungen.

Bis zu seinem Tode 1965 sollte Churchill zu Deutschland ein besonderes schillerndes Verhältnis haben, was vermutlich mehr an den Deutschen denn an Churchill lag. Scharfsinnig wie nur wenige Staatsmänner seiner Zeit erkannte er schon vor Holocaust und Hitlers Weltkrieg das große Defizit der Deutschen. 1937 schrieb er: "Dies ist die Hauptbeschwerde, welche die Geschichte gegen die Deutschen vorbringen muss - dass sie trotz all ihres Verstandes und ihres Mutes die Macht anhimmelten ..."

Churchill lobt die deutsche Sozialversicherung

Churchill kam zu solchen Einsichten, obwohl ihm das Land fremd war. Kultur und Geistesleben vermochten ihn nicht zu fesseln, und auch die Sprache blieb ihm ein Rätsel, wie sein Biograph Peter Alter berichtet. An die geliebte Mutter schrieb Churchill 1890 aus dem Internat: "I began German yesterday. Ugh. Still I hope to be able to 'Sprechen ze Deutche' one of these days." Über einige Bruchstücke des Deutschen kam er freilich nie hinaus.

Erst mit Churchills politischem Aufstieg wuchs sein Interesse an jenem wenige Jahrzehnte zuvor gegründeten Reich in der Mitte Europas, das nun nach Weltgeltung strebte. Churchill zählte dabei keineswegs zu den Scharfmachern in London. 1908 erklärte er, er sehe "nichts, worum diese beiden großen Völker kämpfen sollten". Der gerade zum Handelsminister ernannte Aufsteiger lobte vielmehr die Sozialversicherung im Kaiserreich, die er Parteifreunden zur Nachahmung empfahl.

Und noch kurz vor Beginn des Ersten Weltkrieges wollte Churchill - inzwischen zum Chef der Royal Navy berufen - das Wettrüsten zur See zwischen London und Berlin beenden, das maßgeblich zur Entfremdung beider Seiten beitrug. Er plädierte für ein Treffen mit dem Kaiser auf der Kieler Woche, um die offenen Fragen zu besprechen. Aber die Kabinettskollegen hielten einen solchen Schritt für sinnlos. Churchill blieb in London.

Der erste Weltkrieg verändert sein Deutschlandbild

Als dann 1914 das große Sterben begann, kannte freilich auch der Marinechef kein Pardon: "Deutschland muss die Niederlage spüren." Und je länger der Krieg dauerte, desto schriller wurden seine Attacken. Im November 1918 verkündete er sogar eine Kollektivschuldthese, derzufolge "die gesamte deutsche Nation des Verbrechens schuldig (ist), einen Angriffskrieg geführt zu haben".

Manche Beobachter vermuten, der Brite habe mit solchen Äußerungen vor allem in der Innenpolitik punkten wollen. In der Tat setzte er sich nach dem Sieg über das kaiserliche Deutschland für einen dauerhaften Ausgleich ein und kritisierte intern den harschen Friedensvertrag von Versailles, wie der Historiker Gordon A. Craig berichtet.

Churchill leitete damals nacheinander verschiedene Ministerien; für die operative Deutschlandpolitik war er nicht zuständig. Und so konnte er nur an die zuständigen Kollegen appellieren, den Ausgleich mit Berlin zu suchen. Eine deutsch-britische Freundschaft sei, urteilte Churchill 1921, "für Britannien von größtem Interesse".

Das waren nach den Millionen Toten des Ersten Weltkriegs ungewöhnlich versöhnliche Worte eines alliierten Spitzenpolitikers, die allerdings nicht darüber hinwegtäuschen dürfen, dass der Erste Weltkrieg Churchills Deutschlandbild grundsätzlich veränderte. Es war fortan von Misstrauen geprägt.

Churchills Vorhersagen werden bestätigt

Um der Deutschen "Kraft und Kriegstechnik zu brechen und ihre Kampfeswut zu bändigen, mussten alle großen Nationen dieser Welt gegen sie ins Feld ziehen", schrieb Churchill 1927, "fast zwanzig Millionen ließen ihr Leben oder vergossen ihr Blut, bevor man dieser schrecklichen Hand das Schwert entreißen konnte. Wahrlich, ihr Deutschen, das ist genug für den Rest der Geschichte!"

Kein Wunder, dass Churchill schon 1930 besorgt Hitlers Aufstieg verfolgte und schließlich immer wieder seine Regierung aufforderte, dem Diktator in den Arm zu fallen. Von Kritikern brachte ihm das den Vorwurf ein, er sei "besessen von Deutschland", doch im Rückblick gibt es allen Grund zur Annahme, dass Hitler früher zu Fall gekommen wäre, wenn man Churchills Rat befolgt hätte. Der Tory-Politiker war in den dreißiger Jahren ohne Amt; mit dem Überfall der Wehrmacht auf Polen 1939 erwiesen sich seine Mahnungen und Vorhersagen als richtig, und im Jahr darauf trat er mit inzwischen 65 Jahren auch deshalb die Nachfolge von Neville Chamberlain als Premierminister an.

Großbritannien stand im Sommer 1940 Hitler allein gegenüber; Frankreich war besiegt, die USA waren noch neutral und die Sowjetunion zählte de facto zu Hitlers Verbündeten. Laut Churchills Privatsekretär John Colville erklärte sein Chef in dieser Situation, er wolle "die totale Verwüstung, eine Ausrottung der Nazi-Heimat durch massive Bombenangriffe von hier aus - einen anderen Weg sehe ich nicht".

Geschichtsbewusster Premier

Freilich finden sich dem widersprechende Äußerungen Churchills, was bei dem sprunghaften, von Depressionen und Alkoholsucht geplagten Premier auch bei anderen Themen vorkam. Als einer seiner Schwiegersöhne 1941 "alle deutschen Städte und Fabriken bis auf die Grundmauern niederbrennen und die Landwirtschaft verwüsten, die Bücher und Bibliotheken zerstören will", damit "eine Generation von Analphabeten heranwächst", wies Churchill das zurück. Es gebe keine Alternative zur Akzeptanz Deutschlands "als Teil der europäischen Völkerfamilie". Und auch nachdem er wusste, was in Auschwitz geschah, lehnte er eine kollektive Bestrafung ab.

Der Historiker Lothar Kettenacker verweist darauf, dass der geschichtsbewusste Premier "im kleinsten und vertrautesten Kreis" konziliant auftrat. Gegenüber US-Präsident Roosevelt erklärte Churchill, eine Wiederholung des Unfriedens der Zwischenkriegsjahre lasse sich nur vermeiden, wenn man Wohlstand für alle anstrebe, "einschließlich der Deutschen". Churchill wünschte sich ein neues Deutschland "feist, aber machtlos" ("fat but impotent"), also einen ökonomischen Riesen und zugleich politischen Zwerg.

In der Öffentlichkeit entstand freilich ein anderes Bild, denn der Londoner Regierungschef unterstützte (wenn auch widerstrebend) den sogenannten "Morgenthau"-Plan der Amerikaner, der für Deutschland eine Zukunft als Agrarstaat vorsah. Und er schlug 1943 nachweislich vor, Deutschland so aufzuteilen, dass Preußen im Konzert der Großmächte wieder eine Rolle einnahm. Für Bayern, Württemberg oder Sachsen sah er wohl eine Zukunft mit Österreich in einer Donau-Konföderation vor.

Kein rachsüchtiger Mensch

Vielleicht stimmt es ja, was Churchills Leibarzt aus der Kriegszeit berichtete. Danach sind die Äußerungen des Premiers zur Zukunft nicht sonderlich ernst zu nehmen, denn ihn habe nur das militärische Geschehen fasziniert, alles andere habe er langweilig gefunden und sich erst später damit beschäftigen wollen. "Dafür wird noch genug Zeit sein, wenn wir den Krieg gewonnen haben", pflegte er angeblich zu sagen. Wenige Wochen nach der bedingungslosen Kapitulation des "Dritten Reiches" wurde Churchill jedenfalls von den Briten abgewählt und in die Opposition geschickt. Mit der Teilung des Landes in Bundesrepublik und DDR 1949 hatte er infolgedessen nichts zu tun.

Ob er etwas dagegen unternommen hätte, wenn er im Amt geblieben wäre? Sicher ist, dass Churchill kein rachsüchtiger Mensch war und sich ansonsten ausschließlich an den britischen Interessen orientierte. Und so kam es am Ende seiner Karriere noch zu einer besonders erstaunlichen Volte. Nachdem er 1951 die Wahlen gewonnen hatte und ein letztes Mal als Premier in die Downing Street 10 eingezogen war, plädierte ausgerechnet der neue alte Premier vehement für die deutsche Einheit. Um diese zu erreichen war Churchill sogar bereit, die Neutralität eines geeinten Deutschlands hinzunehmen. Ein Dreier-Gipfel mit Amerikanern und Sowjets sollte es richten.

Insgeheim hoffte Churchill, den Kalten Krieg auf diese Weise zu beenden, der Großbritanniens Weltgeltung drastisch schmelzen ließ. Doch weder Moskau noch Washington mochten zustimmen, auch nicht der damalige Bonner Kanzler Konrad Adenauer. Die Initiative verpuffte. Bald darauf trat Churchill zurück. Mit Deutschland und den Deutschen beschäftigte sich der Greis fortan nur noch selten.

Aber er registrierte mit Wohlgefallen, dass nach zwei Weltkriegen Deutschland von Politikern regiert wurde, deren Expansionsdrang niemand fürchten musste. Wäre es nach Churchill gegangen, hätten die Deutschen damit nicht ein halbes Jahrhundert warten brauchen.