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Anti-Regierungs-Proteste im Irak "Wir sind endlich vereint in unserem Hass"

Korruption, Arbeitslosigkeit, Misswirtschaft: Viele Iraker protestieren seit Wochen gegen ihre Regierung. Die hat die Lage nicht mehr unter Kontrolle, Milizen töten und verletzen Demonstranten.
Von Philipp Breu
Hilfe in der Not: Die Sicherheitskräfte in Bagdad setzten Tränengas ein, das hier versucht wird auszuwaschen

Hilfe in der Not: Die Sicherheitskräfte in Bagdad setzten Tränengas ein, das hier versucht wird auszuwaschen

Foto: Philipp Breu

Sunniten und Schiiten, Ärzte und Arbeitslose, Frauen und Männer, Alte und Junge - sie alle haben keine Geduld mehr im Irak. Seit einem Monat gehen die Menschen in der Hauptstadt Bagdad, aber auch in den Provinzen auf die Straßen.

Sie protestieren gegen Misswirtschaft, korrupte Eliten, die hohe Arbeitslosigkeit in einem der erdölreichsten Staaten der Welt. Mindestens 250 Demonstranten wurden bereits getötet, zum Teil durch gezielte Kopfschüsse. Die Zahl der Verletzten ist weit höher, genaue Angaben gibt es nicht.

Zwei Helfer retten einen Mann, der von den Sicherheitskräften verletzt wurde

Zwei Helfer retten einen Mann, der von den Sicherheitskräften verletzt wurde

Foto: Philipp Breu

"Iranische Milizen haben dabei die Drecksarbeit übernommen und von Dächern auf die Demonstranten geschossen", sagt Ali, der seinen Nachnamen nicht nennen will. Der 45-Jährige arbeitet als Logistiker in Bagdad.

Er demonstriert nicht, bleibt aus Furcht fern vom zentralen Freiheitsplatz, wo die rot-weiß-schwarzen irakischen Fahnen wehen, wo Nacht für Nacht die Massen zusammenkommen - und wo bislang die meisten Demonstranten gestorben sind.

Weg, nur weit weg: Ein Demonstrant schmeißt eine Tränengasgranate zu den Sicherheitskräften zurück

Weg, nur weit weg: Ein Demonstrant schmeißt eine Tränengasgranate zu den Sicherheitskräften zurück

Foto: Philipp Breu

Die Milizen, die er meint, stammen nicht aus Iran. Es sind vor allem junge Männer der Kampfgruppe "al-Haschd al-Schaabi" (Volksmobilisierungseinheiten), die vom Regime in Teheran unterstützt wird, das großen Einfluss auf den Irak hat. (Lesen Sie hier mehr zu den Hintergründen)

Die Schiitengruppe hat sich der sunnitischen Terrormiliz "Islamischer Staat" ab 2014 entgegengestellt - und nach den Kämpfen die Macht im staatlichen Sicherheitsapparat sukzessive ausgebaut und sich bereichert.

"Wir sind müde"

Abbas, ein 50-jähriger Iraker, der seit 25 Jahren in Dänemark lebt, ist extra für die Proteste zurück in sein Heimatland gekommen. "Wir sind müde, dass sich seit 2003 nichts verbessert hat. Irak ist ein unwahrscheinlich reiches Land, aber nichts davon wird in Infrastruktur oder Entwicklung investiert", sagt er. "Die Politiker und Eliten bedienen sich an öffentlichen Geldern und stecken alles in ihre Taschen, während die meisten Iraker weder Strom noch Wasser oder Arbeit haben."

Abbas hat vor seiner Abreise Spenden in Höhe von 2000 US-Dollar in der irakischen Exilgemeinde in Dänemark gesammelt. Er hat das Geld in Bagdad für Essen, Getränke und Decken ausgegeben - und sie den Demonstranten geschenkt. "Ich bin so glücklich, all diese Menschen hier zu sehen. Wir sind endlich als Iraker vereint in unserem Hass auf diese unfähige Regierung."

Die Gewerkschaft der Ärzte stellt in einem Zelt auf dem Freiheitsplatz Getränke und Hygieneartikel kostenlos bereit

Die Gewerkschaft der Ärzte stellt in einem Zelt auf dem Freiheitsplatz Getränke und Hygieneartikel kostenlos bereit

Foto: Philipp Breu

Obwohl die meisten Demonstranten auf den Straßen kaum selbst genug Geld zum Leben haben, anders als der Exilant Abbas, herrscht große Spenden- und Solidaritätsbereitschaft. In aufgebauten Zelten werden Mahlzeiten und Getränke kostenlos angeboten und sogar Gesichtsmasken gegen das Tränengas.

Die Rikschafahrer, die normalerweise Gäste für ein paar Dinar durch die Straßen der Hauptstadt fahren, rasen in hohem Tempo zwischen der Brücke der Republik, wo sich Polizei und Demonstranten immer wieder gegenüberstehen, und den Ambulanzen hin und her.

Unter dem Schutz einer Mauer beobachten zwei junge Männer die Auseinandersetzungen mit den Sicherheitskräften

Unter dem Schutz einer Mauer beobachten zwei junge Männer die Auseinandersetzungen mit den Sicherheitskräften

Foto: Philipp Breu

Dass sich die Lage bald beruhigt, scheint ausgeschlossen. Das Protestlager wächst. Seit Dienstag haben sich mehrere Gewerkschaften den Demonstranten angeschlossen. Sie legten landesweit die Arbeit nieder. Hunderte Ärzte, Krankenschwestern, Lehrer, Tausende Studenten und Schüler strömten allein an diesem Tag auf Bagdads Freiheitsplatz.

"Sie lügen alle"

Einer von ihnen ist Ali, ein 26-jähriger Student aus der fernen Hafenstadt Basra im Südirak. Er hofft, dass die Regierung von Ministerpräsident Adel Abdul Mahdi ihren Rücktritt einreicht. "Wir wollen keine Berufspolitiker mehr", sagt er. "Sie lügen alle. Sie sind nicht am Wohl des Landes interessiert, sondern nur an ihrem eigenen Bankkonto."

So weit ist es noch nicht, noch gibt es die Regierung von Premier Mahdi. Und trotzdem, trotz der Ungewissheit, trotz der Gewalt: Die Demonstranten in Bagdad feiern ihren Widerstand. Frauen tanzen neben Männern, alle paar Meter ziehen Sackkarren mit mobilen Lautsprechern über den Freiheitsplatz, aus den Boxen dröhnt Musik, und Autokorsos fahren hupend durch die ganze Stadt.

In der Nähe des Freiheitsplatzes, direkt neben der Brücke, die in die schwer gesicherte "Grüne Zone" führt, wo die ausländischen Botschaften und die Regierungsgebäude stehen, liegt ein hohes Gebäude, das "türkisches Restaurant" genannt wird.

Den Freiheitsplatz im Blick - aber auch die Freiheit?

Den Freiheitsplatz im Blick - aber auch die Freiheit?

Foto: Philipp Breu

Es ist ein Rohbau, Gerüste im Inneren sind eingestürzt, ein beißender Gestank liegt in der Luft, es riecht nach Urin, Unrat und Tränengas. Vom Dach des Gebäudes aus sieht man das Revolutionspanorama.

Auf der einen Seite Sicherheitskräfte, die das Regierungsviertel schützen sollen, auf der anderen, hinter einer Mauer und Barrikaden, Hunderttausende friedliche Demonstranten. Getrennt sind die beiden Gruppen durch eine Brücke über den Fluss Tigris.

Die Brücke über den Fluss Tigris in der Hauptstadt Bagdad: Hier tobt der Kampf um die Zukunft des Landes

Die Brücke über den Fluss Tigris in der Hauptstadt Bagdad: Hier tobt der Kampf um die Zukunft des Landes

Foto: Philipp Breu

Ganz vorn auf der Brücke, dort, wo die Gefahr einer Tränengasgranate so groß ist, wie nirgendwo sonst, steht immer wieder eine alte Frau. Sie ist an ihrem traditionellen schwarzen Gewand, dem Tschador, zu erkennen, und daran, dass sie Gesichtsmasken an junge Männer und Frauen verteilt wie Bonbons. Wie sie heißt, will die alte Frau nicht sagen. "Mein Name ist unwichtig", sagt sie. "Die Menschen hier sind es. Wir sind alle Iraker."