WELTGo!
Journalismus neu erleben und produktiver werden
Ihr Assistent Journalismus neu erleben und produktiver werden
WELTGO! ENTDECKEN
  1. Home
  2. Politik
  3. Ausland
  4. Kurden und Christen: Ein Krieg um Schulbücher bestimmt Syriens Zukunft

Ausland Kurden und Christen

Ein Krieg um Schulbücher bestimmt Syriens Zukunft

Lehrer Jacob Lahmo erklärt die syriakische Schrift. Die Sprache der syrischen Christen wird jetzt wieder unterrichtet – dennoch fürchten ihre Sprecher marginalisiert zu werden Lehrer Jacob Lahmo erklärt die syriakische Schrift. Die Sprache der syrischen Christen wird jetzt wieder unterrichtet – dennoch fürchten ihre Sprecher marginalisiert zu werden
Lehrer Jacob Lahmo erklärt die syriakische Schrift. Die Sprache der syrischen Christen wird jetzt wieder unterrichtet – dennoch fürchten ihre Sprecher marginalisiert zu werden
Quelle: Sebastian Backhaus
Mitten im Bürgerkrieg errichten Kurden und Christen eine Selbstverwaltung für Nordsyrien. Und schon streiten sie sich um die Lehrpläne – und über eine ganz besonders kurdische Sicht der Geschichte.

Die Zukunft Syriens sieht aus wie ein Museum. Das Familienanwesen im christlichen Viertel von Kamischli ist alt, von der Decke bröckelt der Putz, auch die altertümlichen Elektroleitungen müssten dringend saniert werden. Die Schulbänke in den Klassenzimmern rund um den schattigen Innenhof scheinen aus den 60er-Jahren zu stammen. Hier, im vom Regime befreiten Norden Syriens, haben Nancy Eissa und ihr Mann John das Sprachinstitut Orhoy aufgebaut, wo nach Jahrzehnten kultureller Unterdrückung endlich wieder Syriakisch gelehrt werden kann, die uralte Sprache der syrischen Christen.

Nancy Eissa, 30, Direktorin des Sprachinstituts Orhoy in Kamischli
Nancy Eissa, 30, Direktorin des Sprachinstituts Orhoy in Kamischli
Quelle: Sebastian Backhaus

„Die Nachfrage nach Syriakisch ist unglaublich groß“, sagt die 30-jährige Direktorin Eissa. Das liege an der christlichen Renaissance hier. Jeden Sonntag in der Kirche freue sie sich, wie viele Christen noch da seien und wiederkämen, erzählt Eissa mit einem stolzen Lächeln. „Es gibt ein neues Selbstbewusstsein, nachdem wir Christen gemeinsam mit den Kurden den IS vertrieben haben.“ Doch nun ist plötzlich beides wieder in Gefahr – das Selbstbewusstsein und die Gemeinsamkeit mit den kurdischen Nachbarn.

In Rojava, der Region an der Grenze zur Türkei, könnte ein Modell für das friedliche Syrien von morgen entstehen. Hier haben die nordsyrischen Christen gemeinsam mit der kurdischen Bevölkerungsmehrheit und Turkmenen, Armeniern, Sunniten erst das Regime entmachtet und dann den IS zurückgeschlagen. Doch nun, wo die Sieger in gemeinsamer Selbstverwaltung einen neuen Staat errichten, drohen neue Konflikte zwischen ihnen – nicht um Waffen und Territorien, sondern um die kulturelle Identität dieses multiethnischen Landstrichs. Um Schulbücher, historische Fakten, um Sprache.

Das Alte Testament wird etwas umgeschrieben

„Die kurdischen Institute bekommen viel mehr Geld und das auch schneller“, sagt Eissa. „Unsere Möbel, die Computer, alles ist aus zweiter Hand“, wirft ihr Mann John ein. „Wir haben keine Bücher, keine Lexika. Die Kurden bekommen alles neu und in bester Qualität.“ Und das sei lange noch nicht alles, sagt John Eissa, der in der Schule seiner Frau Syriakisch lehrt. „In den neuen Schulbüchern verändern sie historische und geografische Fakten!“ Da bekämen traditionell christliche Orte neue kurdische Namen. Und in den Geschichtsbüchern werde den Schülern eingeredet, König Nebukadnezar aus dem Alten Testament habe eine Kurdin geheiratet. Dabei sei seine Dynastie doch ganz klar assyrisch, wie die heutigen Christen im Land. „Stellen Sie sich das mal vor“, sagt John und kann sich dann ein lautes, höhnisches Lachen nicht verkneifen.

Jacob Lahmo, ein weiterer Syriakisch-Lehrer des Instituts, der gerade ins Büro der Direktorin gekommen ist, sieht ein noch viel ernsteres Problem: „Vergesst die Landkarte in ihren Schulbüchern nicht“, sagt er. „Da schrumpfen die Türkei, Syrien, der Iran und der Irak zugunsten eines riesengroßen Kurdistan.“ Das könne man natürlich nicht hinnehmen. Man müsse schon bei den Fakten bleiben, ob es einem aus ideologischen Gründen gefalle oder nicht.

Diese ganz eigene kurdische Sicht der Welt findet sich – wohlgemerkt – in kurdischsprachigen Lehrwerken für kurdische Schülerinnen und Schüler. Die Christen arbeiten an ihren eigenen Materialien. Aber sie fürchten, dass unterschiedliche historische Wahrheiten irgendwann zu Streit führen. Und mit Argwohn nehmen sie zur Kenntnis, wie langfristig und systematisch die Kurden ihren Zugriff auf die Deutungshoheit vorbereitet haben. Syrisch-kurdische Kulturinstitute begannen schon 2011 mit der Entwicklung neuer Lehrpläne. Nun sind sie fertig, und ihr Ergebnis soll auch als Blaupause für Christen und Araber gelten. Das versuchen die Kurden mit Druck in den neuen, gemeinsamen Gremien durchzusetzen. Etwa im Erziehungskomitee.

Wir müssen nur auf unsere Rechte und Interessen pochen, dann geht das schon
Nancy Eissa, christliche Direktorin in Nordsyrien

„Wir können dort gar keine eigenständigen Entscheidungen treffen“, sagt Malek Hanna, einer der Fachleute des Gremiums. Der Vorsitzende des Expertenstabes lasse ohne bestimmte Personen nicht abstimmen, die eigentlich gar kein Mitspracherecht dort hätten, sagt der 27-jährige Syriakisch-Spezialist. Mit diesen Personen meint er Vertreter kurdischer Organisationen, die „der Partei“ nahestehen. So nennen er und andere die PYD, den syrischen Ableger der verbotenen Kurdischen Arbeiterpartei PKK aus der Türkei. Die Parteigänger der PYD träfen im Erziehungskomitee alle wichtigen Entscheidungen. Obwohl sie nach den gemeinsamen Regeln der Selbstverwaltung gar kein Stimmrecht im Ausschuss haben. „Das ist gegen die Regeln der Demokratie“, sagt Hanna. Diese Leute seien radikale „Betonköpfe“, die jedermann ihren kurdischen Nationalismus aufzwingen wollten.

Russen bauen eine Militärbasis im antiken Palmyra

Das russische Militär hat mit der Errichtung eines Stützpunkts in den Ruinen der syrischen Stadt Palmyra begonnen. Der Bau von Militäranlagen in Altertümern verstößt eigentlich gegen Recht.

Quelle: Die Welt

Aber es gebe Hoffnung. Andere Kurdenvertreter hätten erkannt, dass man auch Nichtkurden auf gleicher Ebene begegnen müsse. „Glauben Sie mir, nur diese Radikalen haben über den Inhalt der Schulbücher entschieden. Mit den Moderaten wäre das nicht passiert.“ Für Hanna ist es nur eine Frage der Zeit, bis sich die Spannungen legen. „Auch diese radikalen Leute werden notgedrungen lernen müssen, sich umzustellen.“

Im Orhoy-Institut machen sich die Eissas und ihr Kollege Lahmo dennoch Sorgen. „Geschichtsfälschungen können wir nicht übernehmen, und ich glaube kaum, dass die sunnitisch-arabischen Kollegen sich damit abfinden werden“, sagt Lahmo, der mit den Eissas an den syriakischen Lehrplänen für den neuen Staat mitgearbeitet hat. „Unsere Bücher sind fertig“, erklärt dann John Eissa. „Wir sind bei der letzten Korrektur.“ Und seine Frau Nancy, immerhin die Chefin hier, will die Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft nicht aufgeben. „Wir müssen nur auf unsere Rechte und Interessen pochen, dann geht das schon“, sagt sie.

Mehr aus dem Web
Neues aus der Redaktion
Auch interessant
Mehr zum Thema

Themen