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Deutschland Bundespräsident in spe

Das Internet-Märchen vom bösen Joachim Gauck

Joachim Gauck Joachim Gauck
Das Misstrauen gegen Joachim Gauck hat Teile der Grünen und der türkischen Community erfasst - Parteichef Özdemir musste den designierten Bundespräsidenten verteidigen
Quelle: dpa/DPA
Seit dem Rücktritt Christian Wulffs schwappt eine denunziatorische Welle gegen seinen Nachfolger durchs Internet. Jetzt hat sie auch die Politik erfasst.

Mit Desinformationskampagnen kennt sich Joachim Gauck ganz gut aus. Zwischen 1990 und 2010 hat er sich hauptberuflich immer wieder damit beschäftigt, wie die Staatssicherheit in der DDR Gerüchte als Waffen gegen missliebige Dissidenten einsetzte.

Im für den Dienstgebrauch bestimmten Wörterbuch der politisch-operativen Arbeit des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) – damals streng geheim – erklärten die Stasi-Kader, warum ihnen die Desinformation so wichtig war.

Die „bewusste Verbreitung von den Tatsachen grundsätzlich oder teilweise widersprechenden Informationen in Wort, Schrift, Bild und Handlungen“ sei deshalb ein probates Mittel im Klassenkampf, weil man damit „Aktivitäten und Kräfte des Feindes in dem MfS genehme Richtungen lenken beziehungsweise diese Kräfte verunsichern“ könne.

Gauck-Basher reißen Aussagen aus dem Zusammenhang

Im neuen, demokratischen Deutschland laufen Desinformationskampagnen freilich ganz anders. Doch wie man aus einem redlichen Bürgerrechtler ein Rechtsausleger macht, der Finanzmärkte verteidigt, Sarrazin lobt und Vorratsdatenspeicherung begrüßt, ist zurzeit im Internet zu besichtigen – und zwar am Beispiel des künftigen Bundespräsidenten.

Man nehme ein Interview, kürze unter Missachtung grammatikalischer Regeln die differenzierten Aussagen auf ein, zwei Satzfetzen herunter – und schreibe diese Fragmente dann oft und falsch voneinander ab. Schon ist die Bühne frei für alle, die schon immer ahnten, dass Gauck ein Gaukler ist.

Wie das Netz aus Gauck einen Sarrazin-Fan macht

Im Netz, vor allem auf Facebook, Twitter und in manchen Blogs, kursieren zurzeit gleich mehrere Behauptungen über den Kandidaten. Der jüngste Vorwurf: Joachim Gauck sei ein Fan von Thilo Sarrazin. Ursprung des Gerüchts: Ein kurzer Netz-Artikel des „Tagesspiegels“ , in dem Gauck mit den Worten zitiert wird, Sarrazin habe mit der Veröffentlichung seines Buches „Mut bewiesen“.

Tatsächlich hat Gauck das während eines Redaktionsbesuchs offenbar gesagt – wie vieles andere über Sarrazin auch. Was sowohl der „Tagesspiegel“ in dem Netz-Artikel wie auch viele Blogger und Twitterer verschweigen: Gauck hatte sich in einem Interview der „Süddeutschen Zeitung“ bereits 2010 eindeutig von den biologistischen Thesen Sarrazins distanziert.

Dass mit dem Buch „Deutschland schafft sich ab“ aber eine Debatte über Integration in Deutschland begonnen wurde, lobte Gauck. Nun kommt die Vokabel „mutig“ ins Spiel: Wenn ein Thema aus Gründen der politischen Korrektheit nicht behandelt werde, so Gauck, müsse man sich nicht wundern, wenn es an anderer Stelle doch behandelt werde.

Misstrauen bei Grünen und der türkischen Community

Verzerrt werden auch Gaucks Ansichten über die Hartz-IV-Reformen, Vorratsdatenspeicherung oder die Occupy-Bewegung. Aus langen Interviews oder Diskussionsveranstaltungen wird zwar zitiert – aber mit dem klaren Willen, Gauck Überzeugungen und Ansichten unterzujubeln, die er gar nicht hat.

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Die Welle im Netz schwappt nun auch in die Politik. Die Linkspartei attackiert Gauck seit Tagen als „Präsident der kalten Herzen“. Dass die Partei mit den größten Stasi-Problemen in Deutschland ein Problem mit dem bekanntesten Stasi-Jäger haben würde, hätte man fast geahnt. Doch der Anti-Gauck-Reflex hat nun auch Teile der Grünen und der türkischen Community erfasst.

Der grüne Bundestagsabgeordnete Memet Kilic, als integrationspolitischer Sprecher seiner Fraktion nicht ohne Einfluss, hält Gauck für unwählbar. Kenan Kolat, Chef der Türkischen Gemeinde, hofft darauf, Gauck möge seine Aussagen „revidieren“. Und der grüne Bundestagsabgeordnete Hans-Christian Ströbele fordert, Gauck solle seine Äußerungen über Hartz IV, die Occupy-Bewegung und den ehemaligen Bundesbankvorstand Thilo Sarrazin „erklären“.

Blogger nehmen Attacken auseinander

Das könnte Ströbele einfacher haben. Zwar ist im Internet eine Meute gegen Gauck unterwegs, deren Behauptungen von Klick zu Klick immer grotesker werden. Manche Blogger machen aber das Delirium der Schwarmintelligenz nun zum Thema. So nahm Patrick Breitenbach von der „Karlshochschule International University“ die Attacken auf Gauck in seinem Blog sauber auseinander.

Auch die bekannte Bloggerin Julia Seeliger , die zunächst selbst auf den Zug der Gauck-Basher gesprungen war, revidierte ihr Urteil wenig später. Im Postskriptum übte sie regelrecht Reue: „Eigentlich wollte ich nur kurz etwas Selbstkritik üben, mich an der Desinformation bezüglich Gauck und Sarrazin, die in den letzten Tagen im Netz stattfand, beteiligt zu haben. Sorry.“

Der Netzaufstand gegen Gauck sorgt in der Führungsetage der Grünen immerhin für soviel Unruhe, dass am Dienstag auch der Parteichef für Gauck in den Ring stieg.

Parteichef Özdemir verteidigt Gauck

Er habe Joachim Gauck schon bei der ersten Kandidatur 2010 als einen Menschen kennen undschätzen gelernt, der „neugierig, offen und lernbereit ist, eigene Standpunkte auch in Frage stellt – und zuhören kann“, sagte Cem Özdemir "Welt Online“. Über die vom CSU-Bundestagsabgeordneten Norbert Geis losgetretenen Diskussion, Gauck möge seine Lebensgefährtin heiraten , bevor er in Bellevue einziehe, hat Özdemir nur noch Spott übrig: "Da hört es bei manchen in der Union mit der Freiheit wohl schon auf".

Demnächst werde man Gauck vermutlich auch noch vorschreiben, wie er „seine Frisur tragen soll“. Der Grünen-Chef mahnt in Sachen Gauck „allgemeine Zurückhaltung“ an. Der 72jährige Kandidat brauche sicher keine Hinweise darauf, wie er sein Privatleben führe.

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Und Jürgen Trittin bekräftigte in der „Frankfurter Rundschau“, man habe Gauck nicht zum Kandidaten gekürt, „weil wir erwarten würden, dass er uns nach dem Mund redet.“ Das wird er sicher nicht. Die Erfahrungen der vergangenen Tage werden ihn aber auch nicht redseliger machen.

Am Freitag wird er in Fürth noch einmal eine Lesung halten – und dann in Klausur gehen. Keine Interviews. Keine Podiumsdiskussionen. Der nächste Shitstorm im Internet wird wohl auf sich warten lassen. Aber nach dem nächsten klugen Wort kommt er bestimmt.

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