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Niemand hat Zeit zu trauern

Von Esther Ghosh

Gastkommentare
Esther Ghosh ist Projektleiterin bei World Vision in Indien. Sie lebt in Delhi.
© World Vision

Ein Covid-19-Erfahrungsbericht aus Indien.


Man wünscht eigentlich niemandem, um einen geliebten Menschen trauern zu müssen. Aber genau dieses Trauern ist in Indien gerade ein Luxus. Ein Luxus, den sich keiner von uns leisten kann.

Jeden Tag hören wir von zwei oder drei Todesfällen im Bekanntenkreis. Und es betrifft nicht nur jüngere Menschen. Die meisten sind in ihren 40ern oder 50ern. Vor ein paar Tagen habe ich von einem jungen Mann gehört, der gestorben ist. Er war gerade einmal 18 Jahre alt. Diese Familie hat innerhalb von zwei Wochen drei Mitglieder verloren.

Bei dieser Masse an Todesfällen um uns herum, ist es unmöglich, die Trauer zu verarbeiten. Man tendiert dazu, zu vergessen, dass es echte Menschen sind – es ist nur ein weiterer Tod und noch einer, zwei, drei ... Ich weiß nicht, wann und ob wir jemals in der Lage sein werden, die Ruhe zu haben und um diese Menschen zu trauern. Denn selbst diejenigen, die Familienmitglieder verloren haben, müssen einfach weitermachen. Niemand hat Zeit innezuhalten und von den Liebsten Abschied zu nehmen.

Gesundheitssystem komplett lahmgelegt

Die zweite Covid-19-Welle in Indien legt unser bereits überlastetes Gesundheitssystem komplett lahm. Den Krankenhäusern gehen die Betten und die Sauerstoffvorräte aus. Schwerkranke Patienten können nicht mehr behandelt werden. Das ist für jeden erschreckend, besonders wenn es die eigene Familie betrifft. Letzte Woche ist mein Bruder Isaac schwer an Covid-19 erkrankt. Er lebt in Agra, wo es keinen Sauerstoff gibt, und ich wusste, wenn er dortbleiben würde, würde er keine Hilfe bekommen.

Also habe ich ihn nach Delhi geholt. Aber das Krankenhaus, in das wir ihn brachten, hatte keine Betten mehr frei. Da sein Zustand sehr schlecht war, haben sie uns geraten, ihn in die Notfallstation zu bringen. Aber auch dort gab es keine Betten. Ich habe herumtelefoniert und jeden angerufen, der mir einfiel und der vielleicht helfen konnte. Das macht jeder die ganze Zeit: um Hilfe suchen und bitten. Auch mich rufen jeden Tag Freunde an, die wissen wollen, ob ich ihnen helfen kann, ein Bett zu finden. Aber die meisten Krankenhäuser sind einfach voll. Und die Hinweise, die man bekommt, stimmen meist nicht. Es ist eine wirklich verzweifelte Situation.

Ich hatte solche Angst, dass wir meinen Bruder nicht versorgen können. Alles, woran ich denken konnte, war, wie viele Menschen schon gestorben sind, weil sie eben kein Bett bekommen hatten. Zum Glück wurde mein Bruder schließlich aufgenommen. Aber als er im Krankenhaus war, wurde ich krank. Ich hatte mich angesteckt. Dann kamen auch die Ängste um mich selbst auf. Würde ich ein Bett bekommen, wenn ich es bräuchte? Würde es jemanden geben, der mir hilft?

Täglich hunderttausende neue Fälle und tausende Tote

Die Situation hier in Indien ist im Moment einfach nur überwältigend. Jeden Tag gibt es hunderttausende neue Fälle und jeden Tag tausende Todesfälle. Die Krematorien brennen Tag und Nacht. Es scheint, als ob die Hälfte der Bevölkerung von Delhi krank ist. Es ist einfach so unvorstellbar schlimm.

Und genau deshalb brauchen wir die Hilfe der internationalen Gemeinschaft. Ich arbeite für World Vision. Hilfsorganisationen hier tun alles, um den Menschen zu helfen. Wir konzentrieren uns auf die Beschaffung und Bereitstellung von Sauerstoff, Krankenhausbetten und medizinischen Hilfsmitteln im ganzen Land. Aber wir versorgen auch die vielen Menschen, die aufgrund dieser Krise hungern müssen. Und wir setzen uns dafür ein, dass gefährdete Gemeinden geimpft werden können und Zugang zu einfachen, aber lebensrettenden Dingen wie Desinfektionsmittel, Seife und Masken haben.

Internationale Hilfe ist dringend notwendig, um Leben zu retten. Wie das meines Bruders.