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Was tun, wenn die Inflation sinkt?

Von Peter De Coensel

Gastkommentare

Der Weg ist frei für die Anhebung der Fed-Leitzinsen.


In den vergangenen fünf Jahren haben die Zentralbanken die Finanzmärkte durch detaillierte Kommunikation äußerst transparent vorbereitet, informiert und gelenkt. Marktteilnehmer passen ihre Positionierung in dem Moment an, in dem die geldpolitischen Institutionen neue Tendenzen in Bezug auf Konjunktur- und Risikoeinschätzungen sowie geänderte Überlegungen zur Festlegung der Leitzinsen bekanntgeben. Die korrekte Einschätzung des Verlaufs beziehungsweise der Form der Reaktionsfunktion einer Zentralbank ist wie die Suche nach dem Heiligen Gral. Aus dem am 5. Jänner veröffentlichten Fed-Protokoll geht hervor, dass 15 von 18 Notenbank-Gouverneuren mit Blick auf den Kerninflationsindex für persönliche Konsumausgaben ein Aufwärtsrisiko erwarten. Der Wert lag im November bei 4,7 Prozent. Jener für Dezember wird für den 28. Jänner erwartet, zwei Tage nach der nächsten Fed-Sitzung.

Klare "Forward Guidance", also offene Kommunikation über die künftigen geldpolitischen Absichten, hat ihren Zweck erfüllt. Richtig umgesetzt führt sie zu Stabilität auf den Finanzmärkten, nicht zu Instabilität. Spitzen in der Marktvolatilität im Nachgang der Veröffentlichung von Notenbank-Protokollen sind auf Gruppen von Marktteilnehmern zurückzuführen, die in Panik geraten, sofortige Maßnahmen fordern und das Narrativ nähren, dass die Zentralbanken die Kontrolle verloren hätten und zu spät agierten. Zentralbanken sind jedoch sehr gut informiert, und ihre Veröffentlichungen zeugen von einer qualitativ hochwertigen Analyse. Die Wahrnehmung weicht oft von der Realität ab.

Der Weg ist frei für die Fed, das umzusetzen, was heute eingepreist ist: eine Anhebung der Leitzinsen im März, gefolgt von weiteren zwei oder drei Erhöhungen im Laufe des Jahres 2022. Der Fahrplan für die nächsten eineinhalb Jahre steht. Ob die Fed im zweiten Halbjahr 2022 mit einer aktiven quantitativen Straffung beginnt, wird noch zu diskutieren sein.

Die Reduzierung der Notenbank-Bilanzsumme durch die Begrenzung der monatlichen Reinvestitionen führt schnell zu einer Verschärfung der finanziellen Bedingungen. Die Bereitschaft der Banken, die Geldmenge durch die Bereitstellung von Krediten zu erhöhen, könnte diese Verschärfung abfedern, aber auch zu kurz greifen, wenn die Kundennachfrage nicht mitspielt. In jedem Fall könnte eine zu frühe Ankündigung einer quantitativen Straffung das Signal dafür sein, dass der Zielleitzins unter 2 Prozent bleiben wird. Die letzte Episode der quantitativen Straffung aus dem Jahr 2018 sollte überdacht werden. Der bilanzielle Straffungsprozess hat mehr Gewicht und wirkt sich schneller auf die finanziellen Bedingungen aus als Zinserhöhungen.

US-Inflationserwartungenbei 2,5 Prozent eingependelt

Die jüngsten Ereignisse führten zu einem Anstieg der impliziten Aktienvolatilität, aber für den aufmerksamen Beobachter auch zu einem Rückgang der impliziten Anleihenvolatilität. Die Aktienmärkte gerieten in Aufruhr, als die Realrenditen ebenso stark anstiegen wie die Nominalrenditen. Das Spiel kann beginnen - mit der Vorhersage, wann wir die erste negative Inflationsrate im Vergleich zum Vormonat sehen werden. Eine solche Entwicklung verkehrt die Inflationserwartungen in ihr Gegenteil: Einem steilen Anstieg folgt ein steiler Rückgang.

Wir müssen heute darüber nachdenken, wie wir uns verhalten werden, wenn wir sinkende Inflationsraten erreichen. Schon jetzt ist mit einem stärkeren Aufwärtsdruck auf die (negativen) Realrenditen als auf die Nominalrenditen zu rechnen. Im zweiten Halbjahr 2022 und 2023 sollten wir nicht überrascht sein, wenn die Inflationserwartungen unter Abwärtsdruck geraten. Während des Zinserhöhungszyklus der Fed von Dezember 2015 bis Dezember 2018 schwankten die zehnjährigen US-Inflationserwartungen um 2 Prozent. Heute haben sie sich bei 2,5 Prozent eingependelt.

Der letzte Zinserhöhungszyklus stieg final auf 2,5 Prozent, wobei die zehnjährigen Nominalsätze einen Höchststand von knapp mehr als 3 Prozent erreichten. Da sich die Märkte heute auf einen finalen Leitzins zwischen 1,5 und 1,75 Prozent einstellen, könnten zehnjährige Renditen Höchststände um 2,25 Prozent erreichen. Dies würde stark als Kaufgelegenheit proklamiert werden. Da die Staatsverschuldung im Verhältnis zum BIP in den vergangenen zwei Jahren um etwa 20 Prozentpunkte gestiegen ist, könnte dies in der Tat ein Niveau sein, auf das man hoffen kann. Mehr Schulden bedeuten weniger reales Wachstumspotenzial. Die Aktienmärkte sollten die Realrenditen genau im Auge behalten.

Steigende reale Zehn-Jahres-US-Renditen wirken sich deutlich negativ auf die Bereiche Informationstechnologie und Gesundheitswesen aus, da diese Unternehmen häufig Ertragsmodelle mit langer Duration aufweisen. Das Gegenteil gilt für den Energie- und den Finanzsektor, da höhere Realrenditen einen vielversprechenden Wachstumszyklus widerspiegeln. Beide Sektoren haben zuletzt eine solide Wertentwicklung gezeigt und zu Jahresbeginn stark zugelegt, insbesondere britische Bankwerte, die von einem frühen Straffungszyklus der Bank of England profitieren. Die EZB sollte dies zur Kenntnis nehmen und dem EU-Bankensektor Hoffnung auf eine Normalisierung der Leitzinsen im ersten Halbjahr 2023 geben, zurück zur Null-Zins-Politik, unter Verlassen des Terrains negativer Zinsen.

US-Aktien: Historische Indexhöchststände

In Bezug auf die US-Aktienmärkte sollte man sich der dünnen Marktbreite - immer weniger Aktien unterstützten die Rally im Vorjahr - bewusst sein, deren Umstände zu historischen Indexhöchstständen geführt haben. Mitte April 2021 wurden 97 Prozent der Aktien des S&P 500 über ihrem gleitenden 200-Tage-Durchschnitt gehandelt, während der Index um 4.200 Punkte pendelte. Anfang Dezember 2021 gab es mit 54 Prozent einen Tiefstand, bis Jahresende stieg der Wert auf etwa 74 Prozent. Dennoch erreichte der US-Leitindex am 3. Jänner mit 4.796 Punkten einen neuen Höchststand.

Angesichts des bevorstehenden Fed-Zinserhöhungszyklus wird die Entwicklung der Realrenditen einer der Faktoren sein, die das Verhalten der US-Aktienmärkte bestimmen werden. Die implizite Volatilität von Aktien und Anleihen steigt zu Beginn und am Ende von Zinserhöhungsphasen überdurchschnittlich stark an. Entgegen dem Marktkonsens sollten wir also davon ausgehen, dass die Volatilität im Laufe der Zeit ab- und nicht zunimmt, wenn die "Forward Guidance" der Zentralbanken mit den Erwartungen der Finanzmärkte in Einklang gebracht wird. Der Zinserhöhungspfad könnte angesichts der hohen Unsicherheit der Fed-Gouverneure ein Worst-Case-Szenario für die US-Anleihenmärkte darstellen. In dem Moment, in dem die Notenbanken in ihrer Entschlossenheit zögern, die Zinsen im zweiten Halbjahr 2022 oder 2023 anzuheben, können Anleihen umso attraktiver werden.