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England und die EM-Rechnung

Von WZ-Korrespondent Peter Nonnenmacher

Politik

Während in Großbritannien weitere Lockerungen für kommende Woche geplant sind, befürchten Virologen, dass sich die Fußball-EM noch nachträglich als Superspreader-Event herausstellen könnte.


Am Montag war der Traum ausgeträumt und England zurück auf dem vertrauten Boden bitterer Realitäten. Auf dem Wembley Way, der hinauf zum Stadion führt, kehrte man die Fähnchen und die zerquetschten Bierdosen zusammen, die England-Fans weggeworfen hatten in der Nacht zuvor. Auch die Reste einer wüsten Invasion des Stadions wurden beseitigt, bei der sich Hunderte von Zeitgenossen ohne Eintrittskarten gewaltsam Zugang zum Wembley verschafft hatten, nur um "an diesem Schicksalstag" mit dabei zu sein.

Eine Atmosphäre tiefer Enttäuschung lag am Montagmorgen überm ganzen Land, nach der fieberhaften Begeisterung der vergangenen Wochen. Doch England, das gerade im eigenen Stadion das Elfmeterschießen im EM-Finale gegen Italien mit 2:3 verloren hatte (1:1 nach Verlängerung), könnte noch eine andere Rechnung dieses Turniers, das schon Schauplatz von Gruppenspielen, ab dem Halbfinale alleiniger Gastgeber war, in diesen letzten Spielen 65.000 Menschen Zugang ins Stadion gewährt - und viele, viele mehr bei Zusammenkünften an öffentlichen Orten zugelassen - hatte, präsentiert bekommen als eben nur ein verlorenes Spiel.

Mehr als 30.000 gemeldete Neuinfektionen pro Tag

Schließlich steigen in Großbritannien aufgrund der dort grassierenden Delta-Variante die Corona-Fallzahlen in den vergangenen Wochen stetig - und Massenzusammenkünfte gelten gemeinhin nicht als tauglichstes Mittel gegen eine Pandemie. Zusätzliche Brisanz dürfte die Thematik bekommen, wenn die weiteren Lockerungsmaßnahmen, die Premier Boris Johnson angekündigt hat, greifen.

Bei den Fans selbst war das am Abend des Finales und am Tag danach weniger Thema. Dabei hatten etliche Virologen vor dem Schaden, den die Meisterschaft im Vereinigten Königreich in Sachen Pandemie angerichtet haben mochte, gewarnt. Ein prominenter Covid-Experte, Professor Karl Friston vom University College London, befürchtet mittlerweile, dass allein die Zahl der Ansteckungen anlässlich des englischen Halbfinales gegen Dänemark und des Endspiels gegen Italien in Großbritannien, meist über soziale Zusammenkünfte, im Laufe des Sommers eine Million erreichen könnte. Schon jetzt findet sich das Vereinigte Königreich ja in einer steilen Aufwärtskurve, mit über 30.000 gemeldeten Neuinfektionen am Tag. Dennoch wollen Johnson und seine Minister am sogenannten "Freedom Day", dem Montag der nächsten Woche, festhalten, an dem für England praktisch alle gesetzlichen Restriktionen wegfallen sollen. Staatlich verordnete Maskenpflicht, Zwang zur sozialen Distanzierung, Obergrenzen für Versammlungen soll es dann nicht mehr geben.

Die Verantwortung dafür, dass die rechten Vorsichtsmaßnahmen ergriffen werden, falle vom 19. Juli an dem einzelnen Bürger, nicht mehr dem Staat zu, hat Premier Boris Johnson erklärt. Dieser Schritt ist allerdings auf heftige Kritik bei Wissenschaftern gestoßen, die davon ausgehen, dass trotz Impfungen noch immer eine hohe Zahl an schweren Erkrankungen und eine Überlastung des Gesundheitswesens zu erwarten steht. Dennoch bestätigte Gesundheitsminister Sajid Javid im Parlament das Vorhaben. Die Voraussetzungen für das Fallen der Maßnahmen seien erfüllt, sagte Javid. Das sei den Bemühungen der Briten und dem Impfprogramm zu verdanken. Zwar sei zu erwarten, dass die Zahl der Neuinfektionen weiter steigen werde, doch glaube die Regierung nicht, "dass die Infektionszahlen einen unaushaltbaren Druck auf den Gesundheitsdienst NHS" ausüben werden, so Javid.

Die WHO-Epidemiologin Maria Van Kerkhove zeigte sich indessen schon über die Bilder vom Finale entsetzt. Sie sagte, das ohne Masken singende und schreiende Publikum anzusehen, sei "vernichtend" gewesen. "Soll ich es genießen anzusehen, wie vor meinen Augen Übertragungen stattfinden?", twitterte die US-Amerikanerin gegen Ende des Spiels.

Trübe Aussichten an der Covid-Front

Tatsächlich haben in den vergangenen Tagen mehrere Krankenhäuser gemeldet, dass sie wegen neuer Covid-Patienten jetzt schon wieder an ihre Kapazitätsgrenze stoßen. Millionen Patienten, die seit Monaten auf alle Arten von Operationen und auf fachliche Behandlung warten, fürchten, dass selbst dringende Fälle wieder aufgeschoben werden aus diesem Grund. Für Fachleute wie den Cambridge-Mikrobiologen Ravi Gupta ist es unter diesen Umständen "unfassbar", dass Johnson den Lockdown jetzt mit einem Schlag aufheben will. "Geradezu ungläubig schaut die Welt auf uns", meint Professor Gupta. "Ein Land, dessen Hochschulen und Experten zu den besten der Welt gehören. Das aber erneut mit totaler Arroganz handelt und unseren Widersacher erneut unterschätzt."

Viele Landsleute Johnsons, die nun verloren zwischen dem jähen Ende ihres Fußball-Traums und einem erneut bedrohlich anmutenden Szenarium an der Covid-Front stehen, schauen nun einigermaßen mutlos in die Zukunft. Auch ohne perfektes Sommerwetter hatten sie sich an eine unbeschwertere Lebensweise gewöhnt. Vom "Freedom Day" hatten sie sich noch mehr erhofft, eine "Rückkehr zur Normalität" nach Johnsons Worten.