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Roms Hinterzimmerpolitik holt Draghi ein

Von WZ-Korrespondent Julius Müller-Meiningen

Politik

Mario Draghi hat Italien als Premier ungewohnte Stabilität gebracht. Das könnte sich mit der Präsidentenwahl ändern.


Gerade noch waren in Italien und seine Politik in aller Munde. Mario Draghi amtiert seit Februar als Ministerpräsident. Das Land liegt ihm zwar nicht zu Füßen. Aber die von Pandemie und Medien verängstigten Italiener sind in der großen Mehrheit ausgesprochen dankbar, dass in dieser schwierigen Phase jemand wie der ehemalige Chef der Europäischen Zentralbank mit ruhiger Hand das römische Politik-Chaos führt.

Draghi gilt mit seinem internationalen Ansehen auch als wichtiger Bezugspunkt in der Europäischen Union. Manchmal wurde er angesichts des bevorstehenden Amtsendes von Bundeskanzlerin Angela Merkel sogar zum neuen Ansprechpartner Europas in der Welt stilisiert. Draghi bleibt der Dreh- und Angelpunkt des Machtkalküls der Parteien in Rom. Und gleichzeitig ist der 74-jährige Premierminister den undurchsichtigen Gesetzen der römischen Hinterzimmer ausgeliefert.

Präsident ist Regisseur und Stabilitätsgarant

Das zeigt sich nun an der bevorstehenden Wahl des Staatspräsidenten. Sergio Mattarellas (80) Amtszeit endet im Februar. Dann soll die Versammlung aus Senatoren, Abgeordneten und Regionalparlamentariern seinen Nachfolger wählen.

Der Staatspräsident hat in Italien kein rein repräsentatives Amt, er ist angesichts der stetigen politischen Unruhe Garant und Regisseur in einem. Der Staatspräsident hat weitreichende Befugnisse, er nominiert Regierungschefs und kann Neuwahlen ausrufen. Er ist in den kritischen Situationen der Dreh- und Angelpunkt der Politik. Der Amtsinhaber sollte eine über die Parteigrenzen hinweg anerkannte Figur sein. Einer wie Draghi eben. Tatsächlich ist der Ministerpräsident der aussichtsreichste Kandidat auf die Nachfolge Mattarellas.

Was aber wird dann aus der Regierung? So lautet die zentrale Frage, die in Rom derzeit diskutiert wird. Sollte Draghi vom Palazzo Chigi hinauf in den Quirinalspalast wechseln, müsste ein Nachfolger als Ministerpräsident gefunden werden. Kandidaten mit derselben institutionellen Statur gibt es allerdings nicht.

Das schon jetzt durch Diskussionen strapazierte Gleichgewicht in der Vielparteien-Regierung Draghis wäre dann dahin. Die an der Regierung beteiligten Parteien, von der italienischen Linkspartei Leu bis hin zur rechten Lega, behaupten, ihnen sei an der nationalen Einheit gelegen. Die Wahrheit ist, dass sich alle Beteiligten derzeit mit den Meriten Draghis bei den Wählern schmücken können. Umfragen zufolge waren zuletzt zwei von drei Italienern mit dem 74-jährigen Römer als Ministerpräsident zufrieden. Die Regierung hat einen Plan zur Investition der über 200 Milliarden Corona-Hilfsgelder vorgelegt und wichtige Reformen auf den Weg gebracht.

Die Wahl des Staatspräsidenten ist ein Wendepunkt. Nicht auszuschließen, dass in Rom bald wieder Chaos herrscht.

Dank der EU-Milliarden und Draghis klarer Linie wächst die Wirtschaft in Italien wieder rasant, sechs Prozent Wachstum sind für 2021 prognostiziert. Sogar Italiens Schuldenberg schrumpft ein wenig. Die strenge, umstrittene Gesundheitspolitik Draghis mit 3G-Pflicht am Arbeitsplatz hat Italien eine Impfquote von bislang rund 85 Prozent in der erwachsenen Bevölkerung beschert. Die Regierung, in der politische Kräfte von ganz links bis ganz rechts vertreten sind, hat Reformen bei Justiz und Verwaltung auf den Weg gebracht und Italien politisch befriedet, vorübergehend zumindest. Derzeit stehen die Rentenreform und Steuervergünstigungen auf der Agenda. Vieles bleibt aber noch Stückwerk, politische Stabilität wäre notwendig. Stattdessen nimmt die Unsicherheit im Parlament und unter den Mitgliedern der Exekutive zu.

Die an der Regierung beteiligten Parteien müssten sich beizeiten auf einen Nachfolger Mattarellas einigen. Nun aber kommen, wie früher, die Einzelinteressen hervor. Die Lega von Matteo Salvini sowie Giorgia Meloni von den postfaschistischen Fratelli d’Italia (FdI) spekulieren auf Neuwahlen, weil sie hoffen, dann eine Mehrheit zu bekommen und selbst die Zügel in die Hand zu nehmen. Für dieses Szenario müsste Draghi erst zum Staatspräsidenten gewählt werden und die Exekutive dann in eine Krise geraten.

Berlusconi hat höchstes Staatsamt im Auge

Silvio Berlusconi will zum Lebensende selbst das höchste Staatsamt übernehmen. Für seine alten Gegner von der Linken, die bislang keinen eigenen Kandidaten hat, wäre das ein Albtraum. Fraglich ist, wie sich die Fünf-Sterne-Bewegung positioniert, die seit 2018 die über meisten Abgeordneten im Parlament verfügt. Bei ihr dürfte wegen schlechter Umfragewerte die Furcht vor einem vorzeitigen Ende der bis 2023 laufenden Legislaturperiode überwiegen.

Und dann wäre da noch eine ganze Heerschar von Kleinparteien und fraktionslosen Abgeordneten und Senatoren, die bei der Wahl des Staatspräsidenten am Ende den Ausschlag geben werden. Eine Prognose, wie das Spiel ausgeht, wagen derzeit nicht einmal die erfahrensten Beobachter.

Der größte gemeinsame Nenner für das Amt des Staatspräsidenten bleibt der parteilose und angesehene Draghi. Doch der ist Ministerpräsident und hat bislang nicht durchblicken lassen, ob er überhaupt gewählt werden will. In Rom heißt es nun, der Premier könne seine Entscheidung in der Neujahrsansprache bekannt machen. Bis dahin sind es noch sechs Wochen. Sechs Wochen, in denen Italien vom Hoffnungs- wieder zum Wackelkandidaten werden könnte.