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Die verschwimmende Grenze

Von Tobias Kurakin

Politik
Links und rechts der Mur haben die Bezirke andere demographische Entwicklungen hinter sich.
© Peter Paul Moschik

Wie sich die Wahlergebnisse in den Bezirken links und rechts der Mur verändern.


Wenn Oliver Koller von seinem Balkon seinen Blick über den Innenhof hin zu den angrenzenden Häusern schweifen lässt, zeichnet sich ein buntes Bild. "Hier wohnt ein Türke, daneben wohnt eine vierköpfige Familie und darüber wohnt ein guter Freund von mir", sagt der 78-jährige Pensionist, der die Diversität seines Viertels mittels losen Fingerzeigs offenlegt. Auch eine Regenbogenfahne hängt von einem Balkon im Nachbarhaus, nur zwei Wohnungen neben jener von Kollers Freund. Der ehemalige Versicherungsmitarbeiter wohnt in der Annenstraße in Graz, auf der rechten Murseite, seit 40 Jahren. Koller erlebte die Annenstraße noch als glamouröse Einkaufsstraße mit schicken Modeboutiquen und prunkvollen Schaufenstern.

In den Nachkriegsjahren hatte sich die Straße schrittweise zu einem Boulevard des "gehobenen Ranges" gemausert, wie es der Grazer Publizist Robert Engele beschreibt. Mittlerweile zeichnet sich jedoch ein anderes Bild. Koller trauert dem Glanz der Vergangenheit in seiner Straße nach und zieht ein altes Brettspiel hervor. Es ist die Edition des österreichischen Klassikers "DKT" aus den 1960er Jahren: "Die Annenstraße war damals noch eine Topadresse, nicht so teuer wie die Wiener Kärntner Straße, aber dennoch lukrativ zu besitzen."

Heute glitzern in der Annenstraße bestenfalls noch billige Handyhüllen aus den Schaufenstern oder mit Kunststeinen versetze Leggins von den Kleiderstangen. Daneben reihen sich Vitrinen, deren einziger Inhalt eine dicke Schicht aus Staub ist. "Viele Vermieter wollen derzeit auch nicht vermieten und warten auf eine Aufwertung der Annenstraße, um dann mehr Profit herausschlagen zu können", sagt der Fachhochschul-Dozent und Betreuer des journalistischen Projekts "Annenpost", Thomas Wolkinger.

Historisch gewachsen und romantisiert

Er sieht zudem eine Überhöhung der Vergangenheit: "Insbesondere alte Mieter beginnen die Annenstraße der 1970er Jahre hochzustilisieren, weil sie mit den exotischen Gewürzläden und Kebap-Buden weniger anfangen können." Zum Flanieren lädt die Annenstraße jedoch nicht ein. Viel Beton, wenige Entspannungsfläche und lautes Gehupe bestimmen das Bild der Straße westlich der Mur. Die Geschehnisse rund um den Niedergang der Annenstraße wurden zum Sinnbild im Denken einiger Grazer.

Konträres Wahlverhalten teilt(e) die Stadt

Die Mur war in Graz stets eine Grenze zwischen Bürgertum und Arbeiter. Manch Grazer sah den Fluss überdramatisiert auch als Trennung zwischen Gut und Böse. So wurde der Fluss in der zweitgrößten österreichischen Stadt schon oft zum Sinnbild für ökonomische, soziale und auch politische Unterschiede. Spaziert man über die Sporgasse, einer verwinkelten Gasse mit Swarowski-Filiale, Baby-Mode-Boutique und schicken Cocktailbars, vorbei am Kastner-&-Öhler-Komplex, so ist die rechte Murseite keine hundert Meter mehr fern. Die Erzherzog-Johann-Brücke ist eine von 16 Übergängen zwischen den vielzitierten und teils nur heraufbeschworenen zwei Welten in Graz.

Politisch zeigten sich aber immer wieder bemerkenswerte Unterschiede. Bei der Nationalratswahl 2013 erlangte die FPÖ in jedem Bezirk auf der rechten Murseite die meisten Stimmen, die Grünen triumphierten in jedem Stadtteil links der Mur. Das Wahlergebnis von 2019 ist hingegen schon mehr ein Indiz dafür, dass die Grenze immer mehr verschwimmt und, so wie die Mur, fließend wird.

Während die Grünen in den sechs Innenstadtbezirken über eine Mehrheit jubeln durften, gewann die ÖVP in den äußeren. Die Ökopartei holte sich demnach auch die Stimmenmehrheit in zwei Bezirken auf der rechten Murseite, in Lend und in Gries, die sechs Jahre zuvor noch blaue Hochburgen waren. Für die Grünen werden diese Bezirke auch bei der anstehenden Gemeinderatswahl am 26. September von Bedeutung sein.

Der steirische Politikexperte Heinz Wassermann von der Fachhochschule Joanneum sieht die Unterschiede in der Historie bedingt: "Das rechte Murufer war stets mehr proletarisch geprägt. Als 2013 die SPÖ unter Werner Faymann schon stark schwächelte, wanderten viele Wähler in das Lager der FPÖ über."

Sechs Jahre später, bei der Nationalratswahl 2019, sei dann der demographische Wandel dafür verantwortlich gewesen, dass die Grünen auch westlich der Mur siegten. "Lend ist in den letzten Jahren so etwas wie der Prenzlauer Berg von Graz geworden, viele junge und kreative Leute haben sich angesiedelt. Diese sind in einem Bezirk mit einer generell niedrigeren Wahlbeteiligung leichter zu mobilisieren und wählen tendenziell eher grün, auch weil es auf Bundesebene für die Grünen wenig Konkurrenz gibt."

Für die kommende Gemeinderatswahl am Sonntag traut sich Wassermann keine konkrete Prognose abzugeben, wie die Grenze an der Mur die Wahl beeinflussen wird. Ihn wundert aber, dass die KPÖ, die sich in Graz als zweitstärkste Kraft etabliert hat, bisher westlich des Flusses keine größere Rolle gespielt hat. Bisher holten die Kommunisten nämlich knapp 55 Prozent ihrer Stimmen auf der linken Murseite.

Die KPÖ hat rechts der Mur noch Potenzial

Die Rahmenbedingungen wären jedoch am anderen Ufer, mit den proletarisch geprägten Bezirken, deutlich günstiger. Denn Nobelbezirke sind Gries und Lend noch immer nicht. Das wissen auch ihre Bewohner und Bewohnerinnen. Aus der Lebenszufriedenheitsstudie der Stadt Graz geht hervor, dass jeder Zweite in Gries die Lebensqualität in seinem Bezirk schlechter sieht als in anderen. In Lend sind es immerhin 40 Prozent, die so denken. Doch die Tendenz dreht sich ins Positive.

Immer mehr Menschen auf der rechten Murseite brechen mit den Klischees. Mittlerweile wurde auch Lend neben dem dritten Grazer Gemeindebezirk Geidorf zu einer Hochburg für Studenten. Second-Hand-Läden und Restaurants mit ausgefallenen Limonaden und veganen Gerichten auf der Speisekarte prägen mittlerweile auch das Straßenbild von Lend.

Und auch für Pensionist Koller bieten die Gebiete abseits der Annenstraße in Lend wieder jenes florierende Leben, das er einst im Bezirk lieben lernte. Statt den Modeboutiquen von damals schlendert Koller nun gerne in eine Bierboutique am Lendplatz und gönnt sich Craftbiere für mehr als 18 Euro pro Sechsertragerl.

Sein Bezirk hat sich stets verändert, er ist wie die gesamte Murseite mitten in einem Imagewechsel. Für Koller, Wassermann und Wolkinger ist klar: Die einstige Grenze verschwimmt immer mehr, die Gentrifizierung ist im Gange. So sollen nach Lend und Gries auch die Außenbezirke Puntigam und Straßgang zu neuem Glanz kommen. Die Grenzen sind in also in Bewegung, wie der Fluss selbst.