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"Es geht immer um die Frage, wer die Umfragen bezahlt"

Von Petra Tempfer

Politik

Die Rohdaten von Meinungsumfragen müssen nicht einmal manipuliert sein, um Wähler zu beeinflussen.


Der Festwagen, auf dem die Musik spielt, fährt ganz vorne an der Spitze weg - gefolgt von einer bunten Menschentraube, die immer größer und größer wird. Diesen "Bandwagon-Effekt" sieht man nicht nur auf Party-Umzügen, sondern auch innerhalb der Wählerschaft. Genauso "Mitläufereffekt" oder "politischer Herdentrieb" genannt, bezeichnet er die Situation, dass wahrgenommener Erfolg die Bereitschaft erhöht, sich diesem anzuschließen. Dem gegenüber steht die "Schweigespirale", die die eigene Minderheitsmeinung unterdrückt. Oder aus Wählersicht gesagt: Man gibt eher jener Person die Stimme, die voraussichtlich die Wahl gewinnen wird. Anderen allerdings, den strategischen Wählern, geht es darum, ihre Stimme so einzusetzen, dass ein bestimmtes Ergebnis wie eine Koalition möglich oder der Erfolg der ungeliebten Partei verhindert wird.

Es sind die Meinungsumfragen, die Entscheidungen wie diese, die auf einem prognostizierten Erfolg oder Misserfolg basieren, möglich machen. Je nachdem, wie groß die befragte Stichprobe ist oder wie die Fragen formuliert sind, können diese aber Unterschiedliches aussagen. Und auch die Art und Weise, wie deren journalistische Einbettung erfolgt, rückt die Ergebnisse mitunter in ein gewisses Licht.

Aktuell wirft die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft dem ehemaligen Bundeskanzler, ÖVP-Chef Sebastian Kurz, und dessen Vertrauten vor, mit Steuergeldern Umfragen und eine allgemein wohlwollende Berichterstattung in der Tageszeitung "Österreich" gekauft zu haben. Ziel soll gewesen sein, Kurz’ politische Ambitionen zu unterstützen. Dabei ging es sowohl um die Beeinflussung von Wählerinnen und Wählern als auch von ÖVP-Funktionären - Kurz übernahm 2017 die ÖVP von Reinhold Mitterlehner. Involviert in die Causa ist auch Meinungsforscherin Sabine Beinschab, Gründerin des Marktforschungsinstituts "Research Affairs", das seit Jahren die Umfragen für die "Österreich"-Mediengruppe durchgeführt hat. Beinschab war vorübergehend festgenommen worden, ist aber mittlerweile wieder auf freiem Fuß. Für alle Verdächtigen gilt die Unschuldsvermutung.

Verbot von Prognosen in Italien zwei Wochen vor den Wahlen

Die Rohdaten müssen nicht einmal manipuliert, frisiert, geschönt, oder wie man es auch immer bezeichnen mag, werden. Umfrageergebnisse haben generell als solche bereits die Kraft, tendenziös und damit meinungsbildend, motivierend oder demotivierend zu sein. Sie beeinflussen die Wahrnehmung der Wirklichkeit. Vor allem im Vorfeld einer Wahl können Umentscheidungen in letzter Minute ausschlaggebend für den Erfolg einer Partei sein - oder für deren Misserfolg. Wie groß aber ist die Rolle, die Meinungsumfragen dabei spielen? Und: Stellen diese womöglich eine Gefahr für die demokratischen Entscheidungen und damit die demokratiepolitische Basis eines Landes dar?

In mehreren europäischen Ländern dürfen unmittelbar vor einer Wahl keine Wahlprognosen mehr veröffentlicht werden. In Frankreich, Bulgarien oder Kroatien sind es zum Beispiel 2 Tage vor dem Wahltermin, in Spanien 5 und in Griechenland und Italien 15 Tage.

In Österreich gibt es keine solche Frist. Eine Tatsache, die Demokratieforscherin Tamara Ehs kritisiert. "Es bräuchte eine Gesetzgebung, um Manipulationsmöglichkeiten, die die freie Wahl einschränken oder zumindest verzerren, zu unterbinden. Eine Möglichkeit wäre ein Verbot, ein oder zwei Wochen vor dem Wahltermin Umfragen zu veröffentlichen", sagt sie. Die Staaten, in denen es dieses Verbot gibt, hätten bereits gelernt, dass die Umfragen zur Manipulation einladen, "was wahlverzerrend im Sinne der Entscheidungsfreiheit wirkt".

Etwa ein Drittel der Wähler sei im Vorfeld einer Wahl unsicher, wen es wählen soll, ergänzt Julia Partheymüller vom Institut für Staatswissenschaften an der Uni Wien. Dieses Drittel orientiere sich unter anderem an Umfragen und lasse sich durch diese in die eine oder andere Richtung lenken, so Partheymüller zur "Wiener Zeitung". Die endgültige Entscheidung falle meist wenige Tage vor der Wahl oder erst in der Wahlkabine selbst. Sogar unter erklärten Stammwählern gebe es diesen Effekt. Laut Studien der Uni Wien zur Silberstein-Affäre 2017 entschieden sich damals 5 Prozent der SPÖ-Stammwähler um: In der Schlussphase des Wahlkampfes zur Nationalratswahl wurde bekannt, dass der von der SPÖ engagierte Politikberater Tal Silberstein eine Schmutzkübelkampagne gegen Kurz geführt hatte. Bei der Wahl überholte die ÖVP die SPÖ und wurde stimmenstärkste Partei.

Vor allem für Wähler, die "zwischen den Parteien" stehen, so Partheymüller, seien Meinungsumfragen entscheidend. Wähler zwischen SPÖ und Grünen zum Beispiel oder zwischen Neos und ÖVP. Die Umfragen können bewirken, dass sie die eine oder doch die andere Partei wählen, dass sie sich der offenbar stärkeren anschließen oder potenzielle Koalitionen ermöglichen respektive verhindern wollen. Sie können aber auch Wählerinnen und Wähler überhaupt erst mobilisieren.

Bunte Medienlandschaft als Bestandteil einer Demokratie

Partheymüller sieht eine mögliche Wahlverzerrung im Sinne der Entscheidungsfreiheit daher weniger streng. "Genau das ist ja auch ein wesentlicher Punkt einer Demokratie, dass es eine bunte Medienlandschaft mit unterschiedlichen Veröffentlichungen gibt - dadurch entsteht erst eine Wettbewerbsdemokratie und damit das Gesamtbild", meint sie. Jeder sollte auch die Freiheit haben, sich darüber seine Meinung zu bilden.

Auch laut dem Verband der Markt- und Meinungsforschungsinstitute Österreichs (VdMI) brächte ein Wahlprognosen-Verbot unmittelbar vor Wahlen wenig. In Zeiten der Sozialen Medien könne man eine Beeinflussung, in welche Richtung auch immer, ohnehin nie ausschließen, heißt es. Von Meinungsforscherin Beinschab hat sich der VdMI zuletzt übrigens distanziert. Bereits vor Jahren habe man deren Mitgliedschaft abgelehnt, so der VdMI in einer Stellungnahme.

Daher sei es umso wichtiger, reflektiert an die Meinungsumfragen heranzugehen, sagt dazu Jakob-Moritz Eberl vom Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft an der Universität Wien. "Man sollte darauf achten, wie groß die Stichprobe und die Schwankungsbreite sind und was genau abgefragt wurde", sagt Eberl, "vor allem aber geht es immer um die Frage, wer die Umfragen bezahlt hat - und mit welchem Zweck." Sinnvoll wäre es daher, stets mehrere Umfrageergebnisse zum selben Thema zu betrachten. Jetzt alle Umfrageinstitute in ein schlechtes Licht zu rücken, sei jedenfalls der falsche Weg.

Was die Stichproben-Größe betrifft, hat der VdMI 2017 neue Regeln für Wahlumfragen erarbeitet, wonach diese eine Mindeststichprobengröße von 800 Befragten haben sollen. Zudem sollen sie nicht ausschließlich online erfolgen. Mehr Befragungen bedeuten allerdings auch höhere Kosten. Vermutlich mit ein Grund, warum viele Umfragen heute an der 800er-Stichprobengrenze kratzen, so Partheymüller. Wünschenswert wären in ihren Augen 3.000 Befragungen, vor allem für Wahlstudien.

Auch das Fehlen von Umfragen kann Wahlen entscheiden

Im Nachhinein scheint es dennoch oft so, dass Prognosen absolut nicht gestimmt haben können - vielleicht haben diese aber auch nur das Wahlverhalten beeinflusst und etwa strategische Wähler als das Zünglein an der Waage mobilisiert. Zum Beispiel bei der Wien-Wahl 2015. Nach Umfragen, die ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen SPÖ und FPÖ prognostiziert hatten, blieb dieses aus. Die SPÖ wurde erneut die deutlich stärkste Kraft vor der FPÖ. "Etliche Zugewinne erzielte die SPÖ damals von ehemaligen Nichtwählern und den Grünen", sagt Politikberater Thomas Hofer. Sie wurden mobilisiert: Die Wahlbeteiligung lag 2015 mit fast 75 Prozent so hoch wie seit 40 Jahren nicht mehr.

Gleichzeitig könne daher auch das Fehlen an Umfragen entscheidend für den Wahlausgang sein, sagt Hofer: Zuletzt geschehen bei der Gemeinderatswahl in Graz Ende September, aus der überraschender Weise die KPÖ als Siegerin vor der ÖVP hervorging. "Im Vorfeld gab es kaum Umfragen", sagt Hofer zur "Wiener Zeitung". "Hätte es aber welche gegeben, die ein Kopf-an-Kopf-Rennen von ÖVP und KPÖ gezeigt hätten, hätte das die ÖVP-Wähler mobilisiert." Die Wahlbeteiligung war mit nur rund 50 Prozent tatsächlich niedriger als in den Jahren davor. Auch das Fehlen von Umfragen bedeutet somit nicht immer automatisch, dass die demokratische Wahlentscheidung auf einer breiteren Basis steht.

Meinungsumfragen können ein Wahlergebnis also in jeder Hinsicht beeinflussen, so Hofer. Dem gegenüber können sie aber auch die Triebfeder für politische Entscheidungen sein: Sich an Umfragen zum Beispiel zu Bauprojekten wie der dritten Piste am Flughafen Wien-Schwechat zu orientieren, zählt zu den Grundmechanismen einer funktionierenden Demokratie.