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Die Welt nach der Pandemie

Von Thomas Seifert

Politik
© Illustration: istockphoto.com

Die Corona-Pandemie hat bestehende Megatrends unserer Zeit noch weiter beschleunigt.


Nachdem der chinesische Facharzt Zhong Nanshain am 20. Jänner bekanntgegeben hatte, dass die durch ein neuartiges Virus verursachte Lungenentzündung in Wuhan von Mensch zu Mensch übertragbar sei und sich bereits 14 Mitarbeiter des medizinischen Personals der Stadt infiziert hätten, war ich zuerst wie vor den Kopf geschlagen und anschließend wütend."

So beginnt das "Wuhan Diary - Tagebuch aus einer gesperrten Stadt", in dem die 1955 geborene chinesische Schriftstellerin Fang Fang Protokoll führt über die 76 Tage, in denen die zentralchinesische Metropole Wuhan von der Außenwelt abgeriegelt war und auch die ersten Tage der Sars-CoV2-Panik beschreibt.

Die 65-jährige Schriftstellerin schreibt in ihrem Tagebuch von Panik, der Angst, der Ungewissheit und der Sorge, sich und andere bereits angesteckt zu haben, sowie darüber, wie gespannte Wachsamkeit entspannter Gleichgültigkeit wich. Das Tagebuch von Fang Fang ist heute ein Zeitdokument dafür, wie alles anfing. Weite Teile der Welt erlitten bald ein ähnliches Schicksal wie die Elf-Millionen-Metropole in der Provinz Hubei in Zentralchina. 2020: Willkommen in der gar nicht so schönen neuen Wuhan-Welt.

Wie geht es nun im kommenden Jahr weiter? Das Jahr 2020 hat Prognostiker Demut gelehrt. Immerhin: Im "Global Risk Report 2020" des World Economic Forum hatte man Infektionskrankheiten zwar auf dem Radarschirm. Ereignisfolgen: Hoch. Wahrscheinlichkeitsgrad: Niedrig. Allzu große Sorgen machte man sich vor einer Pandemie aber nicht. Heute ist klar: Die Post-Pandemie-Welt ist eine andere als die Welt davor. Die Pandemie wirkte als Katalysator und Beschleunigungsmittel für Entwicklungen, die bereits in Gang waren.

Die soziale Ungleichheit in der Gesellschaft wurde sichtbarer. Während geringer entlohnte Arbeiter, Handwerker, Pflegekräfte und Regalbetreuerinnen auch im Shutdown an ihren Arbeitsplätzen erschienen sind, konnten sich Angestellte mit meist höheren Gehältern bequem von Zuhause aus in die Computersysteme ihrer Arbeitgeber einloggen und ihre Arbeit vom Homeoffice aus erledigen. Die Pandemie bürdete Frauen schwere Lasten auf: Homeoffice und Homeschooling waren für viele Mütter die sprichwörtliche Quadratur des Kreises.

Stabilitätsanker Vertrauen

Auch durch die Unternehmenslandschaft ziehen sich immer tiefere Furchen: In den vergangenen Jahrzehnten sind Quasi-Monopole entstanden, vor allem in der zukunftsträchtigen IT-Branche beherrschen Giganten wie Apple, Microsoft, Google und Amazon das Geschäft, Klein- und Mittelbetriebe werden weiter an den Rand gedrängt.

Die Staaten verschuldeten sich wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Zahlen des Institute for International Finance zufolge ist das Verhältnis zwischen den Schulden der Welt und dem ökonomischen Output von 321 Prozent Ende 2019 auf 362 Prozent Ende Juni 2020 explodiert. Eine derartige Schuldenexplosion hat es in Friedenszeiten bis dato nicht gegeben. Keynesianer dürfen sich bestätigt fühlen: Die massiven Staatshilfen haben eine katastrophale Wirtschaftsdepression verhindert; jene, die stets vor einer Schuldenfalle gewarnt haben, stehen - zumindest bisher - als Panikmacher da. Der Stanford-Historiker Neill Ferguson hat dennoch kürzlich in einem Interview mit dem "Handelsblatt" genau davor gewarnt: Die niedrigen Zinsen würden bald steigen, so Ferguson. Wegen höherer Inflation führe daran kein Weg vorbei: "Die US-Haushalte haben 2020 rund eine Billion Dollar zwangsweise gespart. Dieses Geld wird ausgegeben, wenn das wieder möglich ist. Es wird eine Einkaufstour gigantischen Ausmaßes geben, und die Sparquote in den USA wird wieder auf ihr historisches Maß sinken."

© Illustration: stock.adobe.com

Austeritätspolitik als Instrument zur Budgetsanierung scheidet diesmal aus: Eine Schwächung der staatlichen Institutionen und der sozialen Infrastruktur - das hat die Pandemie gezeigt - wird zur Gefahr für alle. Die Pandemie, darauf hat die deutsche Journalistin, Essayistin und Autorin Carolin Emcke in der "Süddeutschen Zeitung" hingewiesen, "hat den ideologisierten Widerspruch zwischen Interesse und Solidarität aufgehoben". Vertrauen und sozialer Zusammenhalt machen Gesellschaften resilient.

Der drohende Handelskrieg

Die Corona-Krise hat auch die ökonomische Plattentektonik gehörig in Bewegung gebracht: Der Welthandel war schon davor in der Defensive, und nach der Finanzkrise 2008 lief das weltweite Handelswachstum dem globalen Wirtschaftswachstum nicht mehr weiter davon. In den USA hat Protektionismus in der Ära von Präsident Donald Trump zugenommen, der Brexit führt zu mehr Hemmnissen im Waren- und Dienstleistungsverkehr zwischen dem Festland (und Irland) und den britischen Inseln. Covid-19 hat diesem Trend eine Facette hinzugefügt: Seit dem Gezerre um medizinische Schutzausrüstung hat sich der Druck verstärkt, Logistikketten zu entwirren und die Produktion wichtiger Güter zurück zu verlagern. Ein positiver Effekt könnte die Stärkung lokaler und regionaler Wirtschaftsräume sein.

In einem Punkt treffen die geopolitischen und ökonomischen Interessen aufeinander: Ein neuer Kalter Krieg zwischen den USA und China ist längst im Gange. Die Herausforderung für Europa: Neutral zu bleiben. Das Investitionsabkommen zwischen der EU und China ist dabei ein wichtiger Schritt. Denn während in den USA und der EU über Deglobalisierung diskutiert wird, wurde 2020 in Asien die "Regional Comprehensive Economic Partnership" aus der Taufe gehoben: Ein wirtschaftliches Partnerschaftsabkommen, das die 10 Asean-Mitgliedstaaten sowie Australien, China, Japan, Neuseeland und Südkorea wirtschaftlich enger aneinander bindet.

Ironischerweise hat die Pandemie, die in China ihren Ausgang nahm, Asien auf der Weltbühne gestärkt. Kishore Mahbubani, Diplomat und Politikwissenschafter aus Singapur, schrieb in einem Essay, der im "Economist"-Jahresvorschauheft "The World in 2021" erschienen ist, dass die Covid-Pandemie den Beginn des "asiatischen Jahrhunderts" markieren werde. "Die Krise hat den Kontrast zwischen der kompetenten Antwort ostasiatischer Regierungen auf die Krise (vor allem China, Singapur, Südkorea und Taiwan) und dem inkompetenten Agieren westlicher Regierungen (wie etwa in den USA, Großbritannien, Frankreich und Spanien) vor Augen geführt. Die niedrigeren Mortalitätsraten spiegeln nicht nur die Kapazitäten der Gesundheitssysteme wider, sondern auch die Qualität von Verwaltungen und die kulturellen Eigenheiten der asiatischen Gesellschaften." Asien setzte auf evidenzbasierte Politik, Experten gaben den Anstoß für die politischen Entscheidungen, in Europa gab es warnende Stimmen, dass sich die Wissenschafter zu "Philosophenkönigen" aufschwingen würden.

Ein "Sputnik"-Moment

Mahbubani vergisst in seiner Argumentation, dass die Abschottung von Inselstaaten wie Taiwan oder Singapur oder dem durch einen Eisernen Vorhang von Asien abgeschnittenen Südkorea leichter zu bewerkstelligen ist - kaum überraschend hat auch Neuseeland beeindruckende Erfolge im Kampf gegen Covid-19 vorzuweisen - und in einem autoritären Digitalüberwachungsstaat wie der Volksrepublik China Test-, Quarantäne und Ausgangsverbote leichter umzusetzen sind, als in offenen, hochgradig vernetzten liberalen Gesellschaften. In anderen Punkten hat Mahbubani aber recht: In Ostasien ist der Glaube an starke Verwaltungsinstitutionen, die von den besten und erfahrensten Leuten geführt werden, stark. Dieser Glaube an Meritokratie hat, darauf weist Mahbubani zu Recht hin, tiefe Wurzeln in der konfuzianischen Kultur. In Europa zählt das Parteibuch mehr als Kompetenz, europäische Politikerinnen und Politiker können in puncto Bildung, Lebenserfahrung und Fähigkeiten mit taiwanesischen, koreanischen oder singapurischen Amtskolleginnen und -kollegen selten mithalten.

Gut möglich, dass Covid-19 ein "Sputnik"-Moment für den Westen ist: Die "pazifische Epoche" ist angebrochen - in früheren Gesundheitskrisen hätten Länder wie Südkorea sich Ezzes in den USA oder Europa geholt, heute ist es umgekehrt. Die Politik in Europa und den USA kann von den Wissenschaftern lernen: Die modernsten Impfstoffe wurden in Deutschland, Großbritannien und den USA entwickelt - in den Naturwissenschaften werden die Standards noch immer im Westen gesetzt.